Aug 012014
 

Mein Bruder

Von Dr. Gerhard Gutsch

Liebe Freunde, im Namen der Familie Dietrich Gutsch, im Namen von Charlotte, im Namen der Mutter, der Brüder, im Namen der ganzen Familie Gutsch möchte ich Ihnen sehr herzlich danken für Ihre Anteilnahme, für die liebevolle Ausgestaltung des heutigen Tages in Wort und Tat, für Ihr Hier- und Dabeisein.  

Nur wenige unter uns kennen Dietrich von Anfang an, von der Schule, von der ersten Jungschar hier in Karlshorst. Diese wenigen – und ich gehöre zu ihnen – erinnern sich gern zurück, weil es auch die eigene Kindheit und Jugend ist. Sein kirchliches Engagement fing 1947 damit an, dass Dietrich, noch fünfzehnjährig und gerade von einer Freizeit zurückgekehrt, auf sein Drängen hin die Erlaubnis unseres damaligen Gemeindepfarrers Völkel erhielt, in Karlshorst einen Jungscharkreis zu gründen. Damals stand der Gemeinde als Versammlungsort nur ein Kellerraum zur Verfügung, Lutherklause genannt. Dort hielt die Gemeinde Gottesdienste, Bibelstunden, Konfirmandenunterricht, Trauungen und Taufen ab. Der Raum war ausgelastet. In den Freistunden hing darin sogar die Wäsche des Pfarrers zum Trocknen. Für den anwachsenden Jugendkreis wurde der Raum bald zu eng, und unser Gesang wurde zu laut für die Hausbewohner. In der Erlösergemeinde, im jetzigen Kindergarten im Hönower Wiesenweg, erhielten wir Gastrecht. Das Gemeindehaus, in dem wir uns hier befinden, war damals noch vom Krieg zerstört. Unsere Kirche, in der wir heute versammelt waren, lag im sowjetischen Sperrgebiet von Karlshorst. Dietrich arbeitete sich leidenschaftlich in seine Rolle als Jugendleiter ein, nahm Kontakt auf zum Jungmännerwerk, leitete Bibelarbeiten und Andachten, verteilte Aufgaben an seinen Nachwuchs und, ich möchte sagen: Mitwuchs. Zum Nachwuchs gehörte ich. Dietrich organisierte Freizeiten, ganz besondere Höhepunkte unseres Kreises, obwohl wir die Rationen unserer Lebensmittelkarte, Brot, Butter, Kartoffeln neben Decke, Hemd und Hose von manchem Bahnhof schleppen mussten. Das Verhältnis war freundschaftlich. Wir waren alle bei der Sache. Was Dietrich sagte, hatte Gewicht und Stimme. Seine Haltung uns gegenüber war aufrichtig und verlässlich. Er erwarb das Vertrauen aller. So wuchsen wir zusammen auf mit jugendlichem Idealismus, in pietistischer Glaubenshaltung, mit Scheu vor weltlichen oder gar politischen Gedanken. Letzteres war wohl dem Einfluss damaliger Vorbilder zuzuschreiben.

Wir wurden älter. Durch die theologische Ausbildung, die Dietrich 1949 begann, kam es bei ihm zu einer Richtungsänderung in der Entwicklung. Er traf auf die Theologie von Bonhoeffer. Bonhoeffer faszinierte und bestimmte ihn. Uns, die wir andere berufliche Wege gingen, aber an unseren Jungscharerfahrungen und -überzeugungen festhielten, uns erschien es, als ob er eine Kehrtwende vollzöge, eine Abkehr von der bisher praktizierten Erweckungs- und Bekehrungstheologie, die auf die inneren Stimme und auf Gottes Eingebung gegründet war. Dietrich wollte uns mitziehen, hartnäckig und beharrlich. Wer mit Dietrich in Freundschaft verbunden war, erlebte es wie wir öfter, dass er Gedanken und Schritte unternahm, die uns herausforderten. Obwohl wir eigene Gedanken und Erfahrungen gesammelt hatten, war uns nicht unwichtig zu wissen, warum er dieses oder jenes so und nicht anders sagte oder tat.

Da waren seine Aufbaulager. Das erste fand 1955 hier in Karlshorst statt. Unsere Kirche, aus dem Sperrgebiet freigegeben, wurde enttrümmert und entrümpelt. Daran beteiligten sich junge Christen aus Holland, Schweden, Westdeutschland und der Schweiz in Gemeinschaft mit jungen Christen aus der DDR und Berlin – Jungen und Mädchen. Wir lernten damals ein Wort, für uns ein Fremdwort, kennen: Ökumene.

Diese Aktion in Karlshorst war in Ordnung. Christen halfen beim Aufbau einer Kirche. Aber was hörten wir später? Junge Christen vieler Länder arbeiteten in den Aufbaulagern für das Nationale Aufbauwerk! Wie konnte das sein? Christen ließen sich für den Aufbau staatlich gelenkter Einrichtungen einspannen und nahmen staatliche Auszeichnungen entgegen? Das Verhältnis von Staat und Kirche war gespannt. Ich erinnere daran, dass es für uns undenkbar war, dass ein Mitglied der Jungen Gemeinde auch ein Mitglied der FDJ (Freie Deutsche Jugend) sein konnte. Kam es zu einer Doppelmitgliedschaft, führte das zum Verweis. Intoleranz auch auf unserer Seite. Diese Kooperation der Aufbaulager mit dem staatlichen Aufbauwerk war für uns eine Provokation. Und wieder mussten wir umdenken. Wir mussten erkennen, dass Mitarbeiten auch bedeutet, Bedingungen zu beeinflussen und Gespräche zu führen, kleine, wichtige Schritte, die Spannungen verringern und Verständigung fördern können. Erfolg stellt sich aber nur ein, wenn die Bereitschaft besteht, sich in die Gedanken und Problemwelt des anderen hineinzuversetzen, sich auch den Kopf des anderen zu zerbrechen. Auf Privilegien beharren, den Standpunkt einnehmen: „Wir sind 2000 Jahre alt, und wer seid ihr?“ – das waren für Dietrich arrogante und unchristliche Denkweisen. Wollte sich die Kirche als eine Kirche darstellen, die für andere da ist, musste sie sich mit gesellschaftlichen und politischen Problemen auseinandersetzen. Wer seine Gemeinde liebt, die tagtäglich mit politischen Fragen konfrontiert wird, muss teilnehmen.

Dietrich musste erfahren: Je mehr er auf dem Wege der Verständigung vorwärts ging, umso mehr musste er sich gegen diejenigen verteidigen, die ihm in den Rücken fielen. Er musste sich rechtfertigen, erklären, durchsetzen. Ein aufreibender, kräfte- und gesundheitszehrender Kampf.

Wichtige Ereignisse der Welt und der Geschichte fingen an, uns als Christen zu beschäftigen. Zweifel an bisher als sicher geltenden Standpunkten kamen auf:

  • Krieg in Vietnam – ein Krieg gegen den Kommunismus?
  • Wir sahen vor allem bitteres Leid in menschlichen Gesichtern. Krieg im Namen der Freiheit?
  • Auf wessen Seite stand Gott?
  • Welcher Gott war da im Spiel?
  • Vielleicht der Gott, der Eisen wachsen ließ?
  • War das unser Gott? 
  • Martin Luther King: Schwarze kämpfen um soziale Gerechtigkeit und um menschliche Würde, leidvoll, gewaltlos. Ein Pfarrer erhält unsere Sympathie – ein Schwarzer. Wir übernehmen einen Begriff: Solidarität. Warum nicht? 
  • Alle sprechen von Frieden, von Gerechtigkeit. Wer meint es ehrlich? 
  • Rassismus – Antirassismus; Kampf gegen Apartheid. Kirchliche Würdenträger stehen auf Seiten der Herabgewürdigten. Warum? Aktionen entstehen: Brot für die Welt – und nicht nur Brot; Antirassismusprogramm – Nikaragua – El Salvador. Priester und Bischöfe stehen auf der Seite der Revolution. Was ist da los?
  • Wer informiert uns? 

Ich möchte rufen: Dietrich, schicke uns die INFORMATION! (monatlicher Rundbrief des Ökumenischen Jugenddienstes)

Kirche im Aufbruch. Welch eine Entwicklung, denke ich zurück an unsere Jungschar, unsere Kirche vor über dreißig Jahren! Für mich war Dietrich an dieser Entwicklung immer mit beteiligt, immer dabei und immer ganz vorn.

In Dietrichs Krankenzimmer hing ein Bild. Ein alter Meister stellte die Anbetung der heiligen drei Könige dar. Maria, wohlhabend gekleidet, mit dem Jesusknaben, der aussieht wie zur Audienz hergerichtet, wohlgelaunt im Schoß seiner Mutter. Vor ihm die Könige, kniend und stehend. Die Darstellung lässt keinen Zweifel: Die Herren besitzen Macht, Verbindungen, Einfluss, Reichtümer, und sie tragen symbolisch kostbaren Schmuck. Sie sind wohlgenährt und ausgeruht. Es fehlt ihnen offenbar an nichts. Doch das letzte wollten sie auch noch besitzen: die Gunst Gottes.

Ich stand vor dem Bild, ich blickte zu Dietrich, wir sahen uns an und dachten an dasselbe: an den Lobgesang der Maria. Über seinen Artikel über den Lobgesang hatten wir uns im August gestritten. Die Mächtigen wird er vom Thron stoßen. Dietrich wollte mir an diesem dramatischen Text klarmachen, dass Gott nicht gegen all und jeden Wohlverhalten und Wohlwollen übt, sondern dass er sehr parteiisch ist. Seine Liebe gilt nicht allen gleicher- maßen. Gott gibt den Mächtigen keine Audienz. Er lässt sich von ihnen nicht umbuhlen. Gott stößt soziale Ungerechtigkeit um. Christus ist Hoffnung und Freude für die Ärmsten der Armen, für die Rechtlosen, Verzweifelten, Hungernden und Ausgebeuteten. Zu diesen seinen geringsten Brüdern gehören wir nicht, so sehr wir uns auch arm, rechtlos, ausgebeutet gebärden. Diese Situation ist uns unbehaglich. Wir fühlen uns ausgeschlossen. Dietrich zog daraus die Konsequenz: Uns bleibt nur übrig, Gott zu loben und zu preisen dafür, dass er gerecht ist, weil er unsere armen Brüder liebt. Wir kennen die Geschichte vom verlorenen Sohn. Der Bruder des verlorenen Sohnes ärgert sich über seinen Vater. Er ist eifersüchtig, weil der Vater seinen zerschundenen Bruder so sehr liebt, dass er zu seiner Rückkehr ein Fest feiern will. Warum freut er sich nicht, einen Vater zu haben, der seinen Bruder liebt? Warum? Hat er keine Liebe, kein Erbarmen für seinen Bruder? Aufgewachsen im Elternhaus, versteht er doch den Vater nicht. Kirche – das sind für Dietrich Menschen auf der Seite Gottes, Gebende, kämpfend für andere, selbstlos, solidarisch.

Liebe Freunde, so schmerzvoll der Tod von Dietrich für uns alle ist, so sicher ist auch, dass Sie im Ökumenischen Jugenddienst, in der Christlichen Friedenskonferenz Ihre Arbeit nach besten Kräften fortsetzen müssen. Dietrich wird noch lange dabei sein, wenn auch stumm. Ich möchte Sie bitten, ihre Bemühungen und ihren Kampf fortzusetzen, mutiger zu bekennen, entschlossener aufzutreten, selbstbewusster, nicht hastig, nicht nervös, gewiss im Glauben. We shall overcome.

Ansprache zum Abschluss des Empfanges anlässlich der Beerdigung von Dietrich Gutsch, am 20.03.1981