Okt 312004
 

Christoph Schnyder 2010

Christoph Schnyder  2010

Älter Werden? Wie macht man das?

Von Christoph Schnyder

Ich bin in einem Miethaus in Zürich aufgewachsen. Ganz oben wohnte Herr Wegmann, ein pensionierter Lehrer, der jeweils laute Gespräche mit den Blumen in seinem Garten führte. Wenn er im Treppenhaus hochstieg, grüsste er immer in Etappen:

„Guten Tag“, dann ein Stockwerk höher, „Christoph“. Der Gruss konnte sich auch über drei bis vier Stockwerke ausdehnen, wenn der Angesprochene mehrere Namen und Titel trug. Mein Bruder und ich fanden damals, wenn es mit uns einmal so weit sei, wollten wir unserem Leben mit einer rasanten Schlittelfahrt ein Ende setzen. Wir waren in diesem Sport so geübt, dass das ohne weiteres möglich gewesen wäre. Ich habe das Alter von Herrn Wegmann noch nicht erreicht, und doch schlittle ich bereits nicht mehr: aus weiser Einsicht übrigens!

Mein Rücken erträgt die unvermeidlichen Schläge nicht. Und ich möchte die Jahre, die ich noch lebe, nicht mit den scheusslichen Schmerzen verbringen, die mir mein Rücken schon angetan hat.

Aelter werden, wie macht man das, wenn man einen Rücken hat, dem man Sorge tragen muss? Da könnten viele von Euch wohl aus eigener Erfahrung mitreden. Mir wurde vom Arzt und vom Physiotherapeuten ein umfassendes Trainingsprogramm verpasst, das ich recht diszipliniert durchturne. Ausserdem mache ich Spaziergänge, Wanderungen, schwimme im Sommer, und ich möchte in diesem Juli/August eine Bergtour wagen, die ich schon lange geplant habe. Ob ich’s schaffen werde?

Wie ich damit umgehen werde, wenn die Kräfte soweit abnehmen, dass Rückentraining, Spaziergänge, Schwimmen und Bergtouren nur noch mit Mühe oder gar nicht mehr möglich sein werden, weiss ich nicht. Ich bin fast sicher, dass mir das Eingeschränktwerden in der körperlichen Bewegungsfreiheit schwer fallen wird. Aber ich beschäftige mich zur Zeit wenig damit. Der Satz von Dietrich Bonhoeffer aus „Widerstand und Ergebung“ bedeutet mir viel: ?Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie uns nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern auf ihn verlassen.? (Aus: „Einige Glaubenssätze über das Walten Gottes in der Geschichte“).

Schwieriger als die Fragen um die Gesundheit ist für mich zur Zeit der zweite Themenkreis. Ich stelle ihn unter die Fragen: Werde ich noch gebraucht? Wozu bin ich noch gut? Ist es überhaupt richtig, in meinem Alter so zu fragen?

Ich habe seit Juni 1998 im Ausbildungs-Seminar für kirchliche Mitarbeiter der Presbyterianischen Kirche des Sudan jedes Jahr während 8 bis 9 Wochen unterrichtet und dabei grosse Herausforderungen erlebt und viel Anerkennung geerntet. Im letzten Dezember ist der zweite 3-Jahreskurs mit einer wunderbaren Diplomfeier zu Ende gegangen. Ich hatte der Kirche schon ein Jahr früher erklärt, ich würde 2003 siebzig und stünde ab 2004 nicht mehr zur Verfügung.

Ich bin unendlich dankbar, dass ein jüngerer Kollege meine Arbeit übernimmt; er steht jetzt dem sudanesischen Staff zur Seite. Ich hatte seit meiner Pensionierung mein Jahr so eingeteilt, dass ich rund zwei Monate für die Vorbereitung der Unterrichtstätigkeit in Afrika einsetzte, zwei Monate für den Unterricht selbst und einen Monat für die Nacharbeit. In der restlichen Zeit des Jahres genoss ich es, mehr Zeit für meine Frau, für die Kinder, Enkel und Freunde und Freundinnen zu haben. Dazu kamen einige kleinere Aufträge und Beratungen von Seiten meines früheren Arbeitgebers Basler Mission. Wenn jetzt die Lehrtätigkeit in Afrika wegfällt, werden mir Frau, Kinder, Enkel, Freunde, Freundinnen und die paar kleineren Aufträge genügen?

Mein zwei Jahre älterer Bruder hat eine Lehre als Töpfer gemacht, Kunstgeschichte studiert und sich auf Keramik spezialisiert. Er wurde Konservator am schweizerischen Landesmuseum für sein Fachgebiet. Er ist heute wohl einer der profundesten Kenner der Keramik der ganzen westlichen und der islamischen Welt. Er wird seit seiner Pensionierung für die Gestaltung von Ausstellungen und als Referent in Europa, Korea, Japan und China angefragt. In einer spannenden Radiosendung über Pensionierung in der Schweiz kamen die Gesprächsteilnehmer zum Schluss, dass der sogenannte Ruhestand für Experten eines Spezialgebietes kein Problem sei. Sie könnten sich meist vermehrt ganz auf ihre Arbeit konzentrieren und würden da auch immer wieder als Fachleute angefragt. Ich dachte da sofort an meinen Bruder. Von mir weiss ich, dass ich zu wenig Experte in meinen Fachbereichen Afrika und Erwachsenenbildung bin, um weiter angefragt zu werden.

Ich erlebte viel Erfüllung und Anerkennung in meiner Berufstätigkeit. Wie jetzt weiter, wenn diese ganz wegfällt?

Gewiss, langweilig wird mir nicht: Vorgestern half ich meiner Frau, die Blumenkisten auf der Terrasse einzurichten. Sie ist eine phantastische Gärtnerin, und alle unsere Besucher freuen sich über die bunte Pracht auf unserem Balkon. Ich bin zuständig für Frühstück, Einkauf und Erstellen der Ordnung in der Küche. Hier gilt knapp zusammengefasst: meine Frau schafft das kreative Chaos, ich die Ordnung. Unsere älteste Tochter hat sich auf ihren 40. Geburtstag ein Theaterstück mit ihren Fingerpuppen gewünscht, an dem ich wohl eine Woche gearbeitet habe. In Utrecht wünscht sich Joachim, unser Enkel, womöglich jeden Abend vor dem Schlafengehen ein Theater mit anderen Fingerpuppen: Krokodil, Nilpferd, Hahn…. Aber es bleibt die Frage, vielleicht eine dumme Frage, aber sie ist da und meldet sich immer wieder:

  • Ist das alles?
  • Willst du dich damit zufrieden geben?
  • Die Frage hängt wohl auch damit zusammen, dass ich mehr als 20 Jahre im Austausch mit afrikanischen Menschen gelebt habe, die ?mit schwindendem Erfolg? an ihrer Tradition festhalten wollen, dass Weisheit, Erfahrung und Rat der Alten geachtet werden müssen, wenn eine Gesellschaft auf die Länge überleben will.

Weisheit hängt nach ihnen mit der Erfahrung der Alten zusammen, und sie fragen: wo sind Orte für die Erfahrungen der Alten in der europäischen Gesellschaft, deren Angebote, „Ordnungen“ und Schulwissen so übermächtig über Afrika hereinbrechen.

Ich zitiere aus dem Buch „Hüter der Sonne: Begegnung mit Zimbabwes Aeltesten“ (Frederking und Thaler, München 1996):

Eines unserer Probleme ist die neue Weisheit. Sie bietet keinen Raum für die alte Weisheit unserer Völker. Die Weisheiten liegen im Widerstreit. Die neue Weisheit ist eine Weisheit der Eroberung, der Vertreibung anderer Weisheiten.

Die neue Weisheit kämpft um ihren Platz. Die alte Weisheit kämpft nicht um ihren Platz. Sie hat sich zurückgezogen und erwartet den Tag, an dem sie wieder aufgesucht werden wird. (S. 83f).

Für einen neuen Entwurf von der Zukunft müssen sich Alt und Jung zusammensetzen.

Sie müssen ein Gespräch miteinander führen, bei dem die Gebildeten nicht wie Vernichter auftreten. Westliche Bildung ist zur Dummheit geworden. Durch sie verliert das Leben seinen Zusammenhang. Jetzt stehen wir vor dem Abgrund und können bald stürzen. Wir müssen unbedingt in einen Dialog miteinander treten; es muss ein gemeinsames Bewusstsein für die Weisheit und die Dummheit unseres Landes entstehen. Führer müssen eine Vision habe, einen Traum für das ganze Land. Wir alle müssen diesen Traum in unseren Herzen tragen; wir alle müssen ihn teilen, damit wir das Land wieder zum Leben erwecken. Frauen sind Teil unseres Lebens, sie müssen an der Gestaltung einer Vision für unser Land beteiligt sein. (S. 111f).

Ich glaube, dass in den Worten von Zimbabwes Aeltesten viel Richtiges verborgen liegt: eine grosse Anfrage und Herausforderung für mich, für uns. Ist es da richtig, wenn ich mich mit Haushalten und Komponieren von Theaterstücken für Kinder und Kindeskinder zufrieden gebe? Die Kinder sind ja höchst wahrscheinlich von der Herausforderung mitbetroffen. Ich glaube nicht, dass wir auf die Herausforderung mit Programmen und Projekten antworten können. Zimbabwes Aelteste sehen wohl richtig, wenn sie nach einer Vision fragen, die in Quellen und Wurzeln des Lebens ihre Grundlagen haben muss. Ich versuche im letzten Abschnitt nach diesen zu fragen und will mit einer Tätigkeit einsetzen, mit der meine Frau und ich in den letzten Wochen begonnen haben.

Wir sind daran, unsere Dias und Fotos zu ordnen. Wann immer ich mich früher von einer Arbeit verabschiedete, versuchte ich Dokumente und Unterlagen so abzulegen, dass die Nachfolgenden sich möglichst leicht orientieren konnten, was ich getan hatte, und entscheiden, ob, wo und wie sie mit der Arbeit weiterfahren wollten, sofern das überhaupt von ihnen abhing. Nun will ich also versuchen, gleichsam mein ganzes Leben in Bildern und Dokumenten abzulegen. Meine Frau hat die Sache schon kreativ, originell und lustig in Angriff genommen: Arbeit im Missionshaus in Basel, Weltladen, Familienfeste usw. Es ist eine Lust, die Bücher durchzublättern: Erinnerungen hochkommen und wachsen zu lassen.

Ich bin noch am Suchen, ob ich das Ganze nach einigen Stichworten ordnen, ob in einige Lebensbereiche einteilen soll. Sicher weiss ich, dass ich Haufen von Bildern wegschmeissen werde. Bei vielen Dokumenten ist das schon geschehen.

Ich habe mit den Kindern vereinbart, dass sie das Wegwerfmaterial noch durchschauen können. Einiges Wenige wird nach Afrika gehen. Zwei bis drei Bilder sind vielleicht von Interesse für das Missionshaus in Basel. Aber für mich selbst soll etwas Schlankes, Ueberblickbares übrig bleiben: gleichsam ein Rechenschaftsbericht in Bild und Wort für mich selbst, vielleicht auch für Züsi, meine Frau und für unsere Kinder. Sicher werden in der Dokumentation meine /unsere Beziehungsnetze zur Sprache kommen: Afrika, Erwachsenenbildung im Kanton Bern, Missionshaus Basel; und in allem immer wieder die Familie, Freunde und Freundinnen, Mitarbeitende, auch heftige Auseinandersetzungen und Versöhnung. Wenn es gut geht, wird darin ein Satz von Max Frisch deutlich werden. Dieser wurde als älterer Man gefragt, wie er sein Leben beurteile. Er soll mit drei Worten geantwortet haben: „Ich habe gelebt“. So möchte ich auf mein Leben schauen und dafür dankbar sein. Und schliesslich möchte ich versuchen, etwas davon festzuhalten, was mir der christliche Glaube bedeutet. Das wird schwierig sein: einerseits wegen meiner selbst, anderseits wegen meiner Umwelt. Wir haben in der „Sternstunden-Gruppe“ davon gesprochen, wie wir auf der Suche sind nach einer Gemeinde, in der wir teilgeben und teilhaben könnten an dem, was der christliche Glaube eigentlich für uns wäre. Ich glaube, dass eine solche Gemeinde wichtig für mich wäre auch im Blick auf das Aelter Werden.

Älter Werden, wie macht man das? Ich kann die Frage nicht allgemein beantworten.

Es gibt da kein „man“ für mich. Ich kann die Frage nur als Herausforderung und Aufgabe für mich selbst gelegentlich wieder neu hören. Wenn es gut geht, finde ich Freundinnen und Freunde, mit denen ich darüber sprechen und vielleicht für ein paar Tage und Wochen grössere Klarheit gewinnen kann, wie es in diesen Tagen geschieht.

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