Aug 012014
 

Wie meine Geschichte mit Dietrich anfing

Von Eva Heinicke

Sommer 1958, Ökumenisches Aufbaulager Berlin-Weißensee. Hinter mir lagen Erfahrungen in und mit Junger Gemeinde, zwei Jahre kirchlicher Dienst als Sekretärin des Propstes zu Halle und Merseburg, die kirchliche Ausbildung und seit kurzer Zeit der Dienst als Gemeindehelferin in Merseburg. Kirche hatte ich bis dahin vorwiegend als Überwinterungsgemeinde erlebt – dieser Staat ist vom Teufel und kann nicht lange dauern; und Ökumene waren in der Hauptsache alte Männer, die schwarz aussahen, gebrochen Deutsch sprachen und fromme Weisheiten von sich gaben. Es waren in diesem Jahr drei Aufbaulager geplant, neben Berlin-Weißensee je eines in Erfurt und Eisenach. Zu allen gab es angemeldete Teilnehmer aus Westeuropa, die Einreisevisa waren ordnungs- und fristgemäß beantragt worden, die Erteilung wurde aber sehr kurzfristig abgelehnt. Ein Pluspunkt für die Überwinterungsstrategen? War jetzt eine Absage mit bedauerlichem Achselzucken und leidendem Unterton angesagt? Natürlich nicht so bei Dietrich. „Es geht nicht gab’s nicht, jedenfalls nicht, solange nicht ein Ausweg gesucht und probiert worden war. Dietrich hatte also in Windeseile für die westlichen Teilnehmer ein Quartier und zwei Projekte in Westberlin organisiert: zuerst die Errichtung eines Kinderspielplatzes in einem Westberliner Flüchtlingslager, dann Hilfe beim Aufbau für den Katholikentag. Die östlichen Teilnehmer arbeiteten im Rahmen des Nationalen Aufbauwerkes (NAW) an der Gestaltung eines Parkes für Senioren am ehemaligen Wohnsitz Bertolt Brechts. Diese Projekte beschreiben die Gratwanderung der Mitarbeiter der Gossner-Mission in der DDR und später unsere als Ökumenischer Jugenddienst. Das staatliche Gegenüber für die Kirchen war damals noch das ZK der SED, der Verantwortliche ein alter Kommunist mit leidvoller Vergangenheit, die ihn unter anderem im Konzentrationslager mit Martin Niemöller zusammengeführt hatte. Ihm ist es, neben einigen anderen, zu verdanken, dass die Kirchenpolitik der DDR weder nach den Erfahrungen Walter Ulbrichts (d.h. Erfahrungen der Arbeiterbewegung mit den Kirchen am Anfang des Jahrhunderts), noch nach sowjetischen Muster gestaltet werden konnte.

Wir hatten 1958 Glück. Für Dietrichs praktisches und schnell entschlossenes Handeln war die Bürokratie der staatlichen Institutionen viel zu schwerfällig. Wenn denen rechtzeitig aufgegangen wäre, dass dieser Gutsch einen Arbeitseinsatz in einem Westberliner Flüchtlingslager organisiert hatte, in dem sich vorwiegend DDR-Flüchtlinge befanden – das hätte auch unser Freund im ZK nicht decken können, und es hätte nichts genutzt, wenn Dietrich beteuert hätte, dass es nur eine Notlösung war, keineswegs typisch für das, was wir suchten und wollten. Die Arbeit für den Katholikentag lag da schon näher, das wurde auch von der kirchlichen Obrigkeit gerade noch toleriert. Aber die Arbeit in Weißensee mit dem Nationalen Aufbauwerk – war das nicht die Institution, die Arbeiter, Studenten und Schüler zwang, „freiwillige“ Enttrümmerungs- und Aufbauarbeit zu leisten, z.B. in der Berliner Stalinallee? Unsere praktische Arbeit in Weißensee blieb von all dem unberührt. Wir waren einbezogen in heftige Auseinandersetzungen zwischen den Senioren und dem Gartenamt um eine Pappel, die die einen erhalten und die anderen fällen wollten. Wir fällten sie schließlich, und das war sehr spannend. Unsere gemeinsame Freizeitgestaltung erforderte wechselseitiges Hin- und Herfahren, das ging damals noch völlig problemlos. Meine Erinnerungen galoppieren nicht nur, sie überschlagen sich gleichsam: Z.B. Mäuse- und Elefantenwitze von Bert erzählt. Wenn wir aufgehört hatten zu lachen, kam Lauris „Bitte, noch einmal!“, denn er hatte Berts liebenswertes, holländisch eingefärbtes Deutsch nicht verstanden. So konnte es geschehen, dass ein oder zwei solcher Witze einen ganzen Abend füllten. Natürlich gab es auch andere und ernstere Gesprächsstoffe. Aber gibt es eine schönere Möglichkeit, etwas zu lernen über Sprache und Kommunikation als beim gemeinsamen Lachen? Dietrich hatte mit all dem so viel zu tun wie jeder von uns. Er war, nachdem er die hektische zusätzliche Organisation bewältigt hatte, unter uns. Dass er es gewesen war, der die Strukturen geschaffen hatte, in denen wir diese tollen Erfahrungen miteinander machen konnten, stand im Hintergrund.

Nach dem Lager bin ich mit viel Schwung und neuen Ideen in meinen Arbeitsalltag nach Merseburg zurückgekehrt. Anfang 1959 machte mir Dietrich bei einer Begegnung in Halle zwei Angebote: mit ihm zusammen die Leitung eines Aufbaulagers in Berlin zu übernehmen und zu überlegen, ob ich für die Arbeit nicht hauptamtlich zur Gossnermission kommen wollte. Das erste war schnell entschieden. Die zweite Entscheidung war schon schwieriger. Johannes Gossner war mir nicht völlig unbekannt. Was mich aber vor allem zu einem spontanen Ja trieb, war die Ökumene, die inzwischen erlebte Ökumene. Es wurde mir der Auf- und Ausbau eines selbständigen Arbeitsgebietes angeboten: Reisedienst in der Jungen Gemeinde und eine Art Nacharbeit mit den Lagerteilnehmern. Dafür war ich ausgebildet. Das zu bewältigen, traute ich mir zu. Die Weiterführung der Aufbaulagerarbeit sollte ich zusammen mit Dietrich tun.

In unserer späteren Zusammenarbeit haben wir oft miteinander gestritten, aber auch gesponnen und geträumt, und daraus sind unsere besten Ideen entstanden. Doch zum Streit noch einige Anmerkungen: Über politische Fragen haben wir nicht gestritten. Wir waren weder an ein Parteistatut noch an eine Ideologie gebunden. Aber unsere Gegenwart konfrontierte uns immer wieder mit Themen und Stichworten, die uns zwangen, zu analysieren, zu bewerten oder auch zu hinterfragen. Dabei habe ich von und mit Dietrich gelernt: Nicht Beobachtung des Heute allein führt zu einer Perspektive für das Morgen, sondern nur Beteiligung. Es war die Ökumene, die uns aus dem ganzen bewohnten Erdenkreis die Stichworte lieferte. Daraus entstand für uns die Verpflichtung zum Denken und Handeln, und die ökumenischen Begegnungen und Gespräche machten uns Mut und gaben uns Kraft, uns einzubringen. Dietrichs Aufgabe wurden immer mehr die ökumenischen Beziehungen der gesamten evangelischen Jugendarbeit in der DDR und die Verhandlungen dafür mit den staatlichen Stellen (insbesondere mit dem Staatssekretariat für Kirchenfragen). Der Ort für unser Beteiligtsein blieb unsere eigene Gesellschaft mit ihren verschiedenen Ebenen und Mechanismen. 


Dietrich Von Antoinette Panhuis

In der ökumenischen Familie klingen Vornamen. Sie rufen immer wieder die Erinnerung wach an eine ganze Welt und eine ganze Geschichte. So ist es mit dem Namen „Dietrich“ oder, wie es am Telefon stets kurz und kräftig klang: „Gutsch“.

Meine Erinnerung an Dietrich ist allerdings nicht so sehr die an eine Stimme und Sprache, sondern an eine Person, eine Statur. Er sagte nicht so viel. Es war manchmal nur ein Munkeln, leicht nach vorn gebeugt mit einem Augenzwinkern, das humorvoll oder ironisch sein konnte. Dennoch gibt es einige Sätze, an die ich mich erinnere, einer davon, der sehr persönlich war, klingt mir noch immer im Ohr: „Du irrst dich“ Seit 25 Jahren, immer wenn ich mich enthusiastisch auf etwas einlasse oder denke, dass eine Unterrichtsstunde glänzend verlaufen ist, höre ich Dietrich warnend sagen: „Du irrst dich“.

Natürlich waren da die Witze in Hirschluch, spätabends wenn die Westbrüder‘ schlafen gegangen waren. Leider habe ich die meisten vergessen (neue habe ich seit der Wende nicht mehr gehört), nicht aber den Satz zum Abschied in früher Morgenstunde: „Schlaft schneller, Genossen!“ „Schlaf schneller“, sage ich mir heute noch manchmal, wenn ich das Licht wieder zu spät ausknipse. Das Wort ‘Genosse‘ war Freunden vorbehalten, nach Dietrichs Variante: „Brüder hat man, Genossen bekommt man“.

Eine Bemerkung von Dietrich fiel mir ein, als ich in diesem Jahr zu Ostern im S-Bahnhof Tempelhof eine große Banknote wechseln musste, um einen Fahrschein (4 DM!) zu kaufen. Ich bekam einige 10-Mark-Scheine zurück, die kleiner waren als die, die ich von früher kannte. Plötzlich musste ich lachen. Die Dame am Schalter schaute mich lächelnd an, und ich musste ihr erklären: „Vor Jahren wurden in der DDR neue Banknoten ausgegeben, die viel kleiner waren als die Vorgänger, was ein Freund (also Dietrich) mit den Worten kommentierte: „Jetzt entspricht die Größe endlich ihrem Wert“ Die Dame konnte mitlachen – sie war bestimmt eine Ossi.

Noch einmal zu den Osterferien dieses Jahres: Ich war auf dem Rückweg aus dem Norden Berlins von einem Besuch bei Professor Basserak, bei dem ich 1972 mit staatlicher Erlaubnis ein Semester „Oekumenika“ gehört hatte (auch das war eine Idee von Dietrich; ich war der erste Westler an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Uni) – mit einer Bescheinigung für die Grenzbehörden, die den Vermerk trug: „Sie bringt gelegentlich Bücher mit, die sie wieder ausführt“ (letzteres natürlich nur, wenn ein Beamter amtlich reagierte, und ich die Titel auf die Rückseite des winzigen Aus- und Einreise-Zettelchen schreiben musste. – Siehe ‘Bessier‘, Seite soundsoviel: „… eine belgische Studentin …“ – das kann nur ich gewesen sein.)

Auf dem Rückweg also von ‘Väterchen Bassarak‘, zusammen mit Rudolf Weckerling (jetzt 90 Jahre alt und, mit seinen eigenen Worten: „unverschämt gesund“, der mir 1973 in seinem neuen Ökumenisch-Missionarischen Institut in der Jebenstraße in Westberlin für das Büro des Europäischen Ökumenischen Jugendrates Unterkunft gegeben hatte) sollten wir noch zum Empfang für die Journalistin Marianne Regensburger, anlässlich ihres 80. Geburtstages. Wir stiegen in der Friedrichstraße aus, und, während Weckerling sich noch zu orientieren suchte, fragte ich: „Planckstraße 20? Na, dann folge mir! Da war doch der ÖJD!“ Im Hof lag keine Braunkohle mehr. Der Geruch fehlte. Erinnerungen haben auch mit Geruch zu tun. Ich wollte wie üblich dreimal klingeln (das hieß: „ich-bin-es“ oder auch „An-toi-nette“). Die Quäker sind noch da. Ansonsten ist es das Büro des Institutes für „Kirche und Staat“. Die möchten in staatlichen Archiven herausfinden, wie der DDR-Staat die Kirchen wertete. Alles ist jetzt schön weiß gepinselt. Weckerling stellte mich vor, übertrieben wie immer als „meine ökumenische Weltkirchenrat-Schwester aus Belgien“. Ein Glas Wein wurde mir höflich noch im Korridor an der Tür angeboten, weil die Zimmer voller Leute waren.

Als ich der Gesellschaft an der Tür entrinnen kann, schlüpfe ich schüchtern nach hinten: Das Büro von Karin und den Mitarbeitern. Und dann wage ich es, nach links zu gehen. Hier ist es ruhig. Neue, einfache Möbel, aber genau dieselbe DDR-Konstellation wie damals in Dietrichs Büro: Schreibtisch quer vor dem Fenster und rechts am Eingang die Sitzecke, Bänke an der Wand und ein Sessel. Fast hätte ich‚ genauso wie damals, meine Sachen und Papiere auf die Bank geworfen und mich daneben – und Dietrich würde sich in den Sessel setzen. Ich fange an zu weinen. Ich habe keine Lust, die Tränen abzuwischen, weil es gut tut, einfach weinen zu können.

Zurück bei den anderen erzählte ich Weckerling kurz, wie es mir ergangen war, und er erklärte es dem Gastgeber. Reaktion: Ein herablassendes „Ach ja, der Gutsch …“. Ich sank in der Achtung. Aber um nett zu sein, fügte er hinzu: „Sie haben also geholfen, die Mauer porös zu machen“.

Ja, das war die Absicht – nicht die, dass sie fallen würde. Aber Gottes Wege sind krumm. Er hat einen krummen Stock, und wir müssen einen aufrechten Gang versuchen Das zum Dank an Gollwitzer! Denn der Grund, dass ich mich 1970 nach dem Studium in Brüssel entschied, noch etwas in Berlin zu studieren, waren Golli und das Hendrik-Kraemer-Haus und vor allem: Über die Mauer gucken. (Was ich damals im wörtlichen Sinne nie gemacht habe; erst jetzt war ich in der Bornholmer Str.) Daraus wurde dann zweimal oder dreimal pro Woche ein Hindurchkriechen (eineinhalb Stunden Arbeit), um zu lernen, wie man in einer säkularen Welt Christ und Kirche sein kann. Fünf Jahre lang habe ich diese Lektion erlebt, und sie hat mich in meinem theologischen Denken in unserer „monde laique“ bestätigt.

Aufarbeiten? Als ich mit unserem Belgischen Synodenvorsitzenden einmal auf einer Tagung des Belgisch-Deutschen Bruderrates in Königswusterhausen war, drehte der sich während eines Vortrags zu mir um und fragte leise: „Was heißt eigentlich ‘aufarbeiten‘? Ich erwiderte: „Das Wort gibt es nicht bei uns. Das gibt es nur in Deutschland.“  

Ich möchte nichts aufarbeiten. Die persönliche Erfahrung ist nicht zu vermitteln. Sie interessierte damals niemanden und heute schon gar nicht. Ich trage sie in mir eine als einen Reichtum. Nur ganz ab und zu kann ich davon meinen Studenten erzählen, und wenn ich erzähle, wird es jedes Mal eine fantastische Stunde – nein, Dietrich, da irre ich mich nicht! Die neue Generation fängt an, sich für „damals“ zu interessieren.

Aufarbeiten kann man nur, indem man singt: „Vorwärts, und nicht vergessen!“ Dann nimmt man alles mit, wovon man weise geworden ist. Nur in der Erzählung schafft man eine Vision. Ist das nicht auch die eigentliche Kraft der Bibel und Jesu, die Erzählung? Also, seien wir froh, dass wir diese Zeit mit Dietrich erlebt haben. Dieses Erbe steckt tief in mir und in uns. Davon erfüllt und bereichert können wir vorwärts gehen in Liebe auf den anderen zu, in aufrechtem Gang. Das ist jetzt die Aufgabe.

Antoinette Panhuis, 1970 – 1975 in Berlin, EYCE/EYS Sekretärin 1972 – 1975