Aug 012014
 

    

Dietrich Gutsch, ein gläubiger Christ

Von Lodewijk Blok

Fragt mich bitte nicht, ob es auch ungläubige Christen gibt. Diese Überschrift habe ich gewählt, weil ich andeuten möchte, dass nach meiner Meinung für Dietrich der christliche Glaube Richtschnur im Denken und Arbeiten war. Gewissermaßen sind wir alle Geisel der Vergangenheit, der Geschichte im persönlichen und auch im weiteren Sinne. Wenn wir uns befreien möchten, um als freie Menschen zu leben, sollten wir anfangen, die Vergangenheit aufzuklären, das heißt, einander klarzumachen, was wir damals – vor 30/40 Jahren – gedacht, getan und erwartet haben. Es wird uns nicht helfen, die Vergangenheit von unseren heutigen Erkenntnissen aus zu beurteilen bzw. zu verurteilen. Natürlich ist es unvermeidlich, dass mit der Zeit immer neue Fragen an die Vergangenheit auftauchen. Man kann sie registrieren und teilweise beantworten. Das ist aber etwas ganz anderes als die ständige Beurteilung der Vergangenheit von unserem heutigen Denken und Wissen aus. Das letzte führt zu Arroganz und Verneinung der Vergangenheit, auch der eigenen Vergangenheit. Was streben diejenigen an, die auf diese Weise so gern „abrechnen“ möchten?

Auf den biblischen Spuren von Dietrich

Für diese Auseinandersetzung verwende ich Notizen, die Dietrich für kurze Betrachtungen oder Meditationen niederschrieb, die er z.B. im Rahmen einer Andacht vortrug. Solche Notizen in großer Zahl, meistens undatiert, sind im Umschlag seiner Bibel von Charlotte aufgefunden worden. Hier verwende ich Blätter, die mit einem Datum versehen sind.

Zuerst Aufzeichnungen vom 29. Juli 1949, also ziemlich kurz nach seiner Konfirmation 1948, mit der Überschrift „Christus Wozu?“ und auch „Wer ist Christus und wozu?“ Ich halte es für wahrscheinlich, dass diese Aufzeichnungen einer Einführung dienten, zum Beispiel bei einer Zusammenkunft der Jungen Gemeinde. Zum Thema sagt Dietrich: „Man kann dieses Wunder ‚Jesus Christus‘ nicht beweisen. Ich will es auch nicht tun und mein Bruder auch nicht. Wir möchten nur kurz andeuten und sagen Wer und Was uns Christus wurde.“ Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind die Bibelstellen Joh. 3, 16 (Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben) und Luk. 19,10. (Denn des Menschen Sohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist). Dietrichs Kommentar: „Jesus selbst sagt: ‚Ich bin der Sohn Gottes‘. Dieses majestätische Wort mag genügen. Er ist der lebendige, auferstandene Herr. Er fordert Menschen, auch uns, in seine Nachfolge zu treten.“ Es folgt eine Passage mit einer unterstrichenen Überschrift: „Das Christentum ist keine Religion. Darum ist das Evangelium von Jesus keine Religion, sondern die Antwort Gottes auf alle Religionen, auf alles Suchen der Menschen, auf alles Fragen unseres Herzens.“

Die Aufzeichnungen zum Thema schließen mit der Notiz: „Zeugnis: Wie ich Christus erlebte.“ Einige Male habe ich später gehört, wie Dietrich behauptete: „Ich bin nicht religiös, dafür fehlt mir die Antenne.“ Nie habe ich verstanden, was er damit meinte, und nie kam ich dazu, ihn darüber zu befragen. Und immer bin ich der Meinung geblieben, das Christentum sei eine Religion und Dietrich ein religiöser Mensch. Aus diesen Aufzeichnungen wage ich zu schließen: Dietrich zielte mit dieser Bemerkung auf die Einmaligkeit, die Einzigartigkeit des Christentums.

Für ein zweites Thema benutze ich zwei Blätter mit Aufzeichnungen Dietrichs vom 15. August 1955 zum Ersten Brief des Paulus an Timotheus 2, 1-4: So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen zuerst tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige, für alle Obrigkeit, auf dass wir ein ruhiges und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit. Denn solches ist gut, dazu auch angenehm vor Gott unserm Heiland, welcher will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.

Von Dietrichs Aufzeichnungen zu dieser Bibelstelle zitiere ich: „Für Christus gibt es keine Schranke zwischen Gottlosen und Frommen, zwischen christlichen und gottlosen Staatsführern ….. Die Fürbitte ist unabhängig von der politischen Lage. Die CDU bedarf genauso der Fürbitte wie die SED. Der Staat, die Obrigkeit dient Christus und damit seiner Gemeinde. Die Gemeinde bittet Gott um eine Obrigkeit, die die Gemeinde in Frieden leben lässt. Die Gemeinde kann nur in Frieden leben, wenn die Obrigkeit mit der Schwertgewalt eine äußere Gerechtigkeit herstellt. Die Obrigkeit schützt die Gemeinde. Wo sie der Gemeinde diesen Schutz versagt, stellt sie damit die Gemeinde umso sichtbarer in den Schutz ihres Herrn. Glauben wir das bei uns? Oder bitten wir um einen so genannten ‚Rechtsstaat‘?“

Für das dritte Thema gebrauche ich die Meditation von Dietrich, ‚Gedanken zu 1. Petrus 4, 1-11‘, die am 17. Juli 1980 veröffentlicht wurde in Halt uns bei festen Glauben. Es handelt sich den Text, den wir am 20. Mai 1981, am Tage von Dietrichs Beerdigung erhalten haben. Dietrich schenkt in dieser Meditation folgenden Zeilen besondere Aufmerksamkeit: Es ist aber nahe gekommen das Ende aller Dinge. So seid nun mäßig und nüchtern zum Gebet.

In diesem Text stehen für Dietrich die Zeit des Endes aller Dinge und die Gegenwart in einem verheißungsvollen Verhältnis. Das Ende aller Dinge bedeutet nicht die Zerstörung aller Ordnung, sondern die Errichtung einer ganz neuen Ordnung, wie zum Beispiel in Jesaja 2,4 angedeutet ist. Die Völker werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen.

Dietrichs Kommentar: „Wer von diesem Ende her denkt, wird sein Leben so gestalten, dass es diesem Ziel Gottes dient. Auf dieses Ziel hin mahnt Petrus die Gemeinde und uns heute, sachlich (nüchtern) zu beten, aber ohne Voreingenommenheit und Ressentiments, aber mit Wissen um die Probleme und ihre Ursachen und mit engagierter Hoffnung; beten um Liebe, die Enttäuschungen und Widerstand aushält. … Das Ende aller Dinge ernst zu nehmen und auf die Zukunft und das Reich Gottes hin zu leben, zu denken und zu arbeiten.“ 

An dieser Stelle und zu dieser Zeit aus den hier vorgestellten biblischen Gedanken Dietrichs Schlussfolgerungen zu ziehen oder Entwicklungen zu registrieren, kommt mir unangebracht, weil überheblich und voreilig vor. Lasst uns vorerst die visionäre Vielfalt seiner Gedankenwelt zur Kenntnis nehmen. Hoffentlich wird sich noch mal die Möglichkeit ergeben, den geistigen Nachlass von Dietrich weiter und systematischer zu studieren.

Persönliche Bemerkungen zum Abschluss

Wahrscheinlich habe ich zuerst 1961 ein Ostertreffen in Berlin mitgemacht. Es war meine zweite Deutschlandreise, nachdem ich im Herbst 1960 an einer wissenschaftlichen Tagung von Historikern in Erfurt teilgenommen hatte. Es folgten August 1961 ein Ökumenisches Aufbaulager in Berlin, mehrere Ostertreffen und sehr viele Tagungen mit Historikern. Diese Begegnungen mit Deutschland, mit der deutschen Kultur, mit deutschen Christen und mit deutschen sozialistischen Kollegen in der DDR haben sich in meinem Leben als wichtig und bestimmend erwiesen. Sie haben mein Blickfeld erweitert und bereichert. Noch immer freue ich mich, dass dies alles ermöglicht wurde. Nebenbei sei erwähnt, wie ich mit Erstaunen feststellen musste, dass Tagungen mit internationaler Beteiligung in deutscher Sprache durchgeführt wurden.

Die Persönlichkeit und Arbeit von Dietrich Gutsch kennen zu lernen, war erfrischend und inspirierend. Wir lernten auf eindringliche Weise die Auffassung kennen, dass der christliche Glaube nicht an eine bestimmte politische Gesellschaftsordnung gebunden sei. In der Hitze des kalten Krieges war das ein auffallender, fast revolutionärer Standpunkt. Er erwies sich als ein fruchtbarer aber auch empfindlicher Ausgangspunkt.

Von Dietrich haben wir gelernt, in einer direkten Weise in nüchternem Glauben mit der biblischen Botschaft zu verkehren. Gesellschaftliche und politische Fragen blieben dabei nicht außer Sicht. Das war nicht immer leicht. Dietrich und andere wollten mit Christen aus West-Deutschland und anderen europäischen Staaten ausdrücklich im Gespräch bleiben. Und darin wollten sie ernst genommen werden.

Wir wurden vertraut gemacht mit Begriffen wie ‚Proexistenz‘ und ‚Suchet der Stadt bestes‘. Vor allem hat der letzte Begriff mich beeindruckt. In der ‚Babylonischen Gefangenschaft‘ (587 – 538) bekam ein Teil des israelitischen Volkes den Auftrag (Jeremia 29): Baut Häuser und siedelt, pflanzt Gärten und esst ihre Frucht … mehrt euch dort…. Und fragt nach dem Frieden der Stadt, dahin ich euch verschleppen ließ, betet für sie zu mir, denn in ihrem Frieden wird Euch Frieden sein.

Erst vor kurzem ist mir aufgefallen, welche wichtige Rolle diese Worte auch in der späteren jüdischen Diaspora spielen. Ein Beispiel dafür ist bei Moses Mendelssohn in seiner Schrift, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1782), zu finden: „Und noch jetzt kann dem Hause Jakobs kein weiserer Rath erteilt werden, als eben dieser. Schicket euch in die Sitten und in die Verfassung des Landes, in welches ihr versetzt seid; aber haltet euch auch standhaft zu der Religion eurer Väter. Traget beider Lasten so gut ihr könnt!“

Obwohl ich seit 1965 nicht mehr direkt mit der Arbeit von Dietrich zu tun hatte, sind wir in Verbindung geblieben und haben die Möglichkeiten, einander zu treffen, genutzt. Es fehlte uns nie an Gesprächsstoff, den wir oft, aber nicht immer, in der Aktualität vorfanden. Was auch nicht fehlte, war gegenseitiges Vertrauen. Auf dieser Basis sprachen und diskutierten wir zum Beispiel über die deutsche Nationalität (1961), die Lage in Europa (Prag, August 1968), das Vermächtnis von Martin Luther und über Judentum.

Seit Jahren bin ich einen anderen Weg gegangen und bekenne mich nicht mehr zum christlichen Glauben. An die Freundschaft mit Dietrich Gutsch erinnere ich mich mit großer Dankbarkeit. Und zu bestimmten Zeiten und Ereignissen frage ich mich noch oft, was er dazu gemeint hätte.