Aug 012014
 

Bekehrung zur Welt

Von Vera Hanekamp-Kovács Sebestény

Wir sind hier zusammen eine bunte Gesellschaft, aus verschiedenen Ländern, Berufen, mit verschiedenem religiösen Hintergrund, politischen Überzeugungen, Männer und Frauen von verschiedenem Alter. Wir sind zusammen, weil wir alle Dietrich gekannt haben und durch ihn inspiriert wurden, und weil wir unsere Erinnerungen an ihn miteinander teilen möchten.

1965 habe ich Dietrich kennen gelernt in einem Aufbaulager in Dresden. Die politische Lage in Ungarn war damals noch ziemlich gespannt. Die Wunden der Revolution von 1956 waren noch nicht geheilt, der Terror, die Gewalt, die Vergeltungsmaßnahmen nach der Niederschlagung der Revolution noch nicht vergessen.

In der Kirche in Ungarn war eine deutliche Spaltung zwischen der Kirchenleitung und der Mehrheit der Pfarrer. Die Bischöfe und andere höhere Angestellte waren mit der kommunistischen Regierung gleichgeschaltet. Die Pfarrer hatten vor der eigenen kirchlichen Behörde ebensoviel Angst wie vor den kommunistischen Behörden. Die meisten „guten“ Pfarrer versuchten, in der eigenen Gemeinde selbständig zu arbeiten und wollten so wenig wie möglich mit der Kirchenleitung zu tun haben. Die Ortsgemeinden waren autonom, introvertiert, und die gesellschaftlichen Probleme waren weit weg. Man sollte das so genannte „sterile Evangelium“ verkündigen, das immer und überall gültig ist. Als das Wichtigste erschien stets das persönliche Verhältnis zu Gott im Sinne der Frage: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ Das Ergebnis war eine pietistische, geschlossene, nach innen gerichtete Gemeinde.

Ich gehörte auch zu dieser eben beschriebenen Gruppe. Der Pietismus hat viele Jugendliche angesprochen. Er gab Sicherheit, Wärme, Vertrauen, Schutz, Zusammengehörigkeit und eine feste Haltung der feindlichen, atheistischen Ideologie gegenüber. Ich erwartete, in Dresden eine ebensolche Atmosphäre anzutreffen.

Meine Erwartungen waren aus verschiedenen Gründen hoch gespannt. Warum? Es war meine erste Auslandsreise. Noch nie hatte ich die Grenzen Ungarns überschritten. Die Grenze hatte damals in unseren Gedanken eine geradezu magische Bedeutung, die Grenze in den Westen zumal war verknüpft mit der Idee einer Mauer, eines eisernen Vorhanges.

Sehr spannend schien mir auch die Möglichkeit, Begegnungen und Gespräche mit Ausländern zu haben. An der theologischen Akademie in Budapest haben wir oft ausländische Gruppen gesehen, aber wir durften sie nie sprechen. Bei Vorlesungen saßen wir immer schon im Saal, wenn solch eine Gruppe mit einem Professor hereinkam und wir blieben, bis sie den Raum wieder verließen, ohne dass wir die Möglichkeit gehabt hatten, mit ihnen zu sprechen. Einmal ist es einem Studenten aus dem dritten Studienjahr, István Török, gelungen, einen westdeutschen Studenten im Korridor anzusprechen und ihn zu einem Gespräch in sein Zimmer einzuladen. Es kamen 10-12 ungarische Studenten zusammen und erzählten dem Gast von der „anderen Wahrheit“, abweichend von der der Professoren. István Török wurde von der Akademie entfernt, die anderen Beteiligten haben einen Verweis bekommen. Zwei Jahre später konnte István Török verspätet sein Studium an der zweiten theologischen Akademie, in Debrecen, beenden.

Die Sensation meiner Reise hat mich ganz erfüllt. Der internationale Zug, die Grenze, die Fremdsprache und die Erwartung der Begegnungen mit Jugendlichen aus anderen Ländern. (Wenn ich heute unsere Kinder beobachte, wie sie ihre „Weltreisen“ nach Amerika, China, Afrika etc. vorbereiten, muss ich über meine damalige Aufregung lachen. Es waren andere Zeiten – in jeder Hinsicht.)

Endlich bin ich in Berlin eingetroffen; mit einem großen Koffer, Sonnabendnachmittag, ganz allein. Niemand verstand mich, und ich verstand auch niemanden. Endlich habe ich die Adresse von Ursula Grimm auf einen Zettel geschrieben und gebeten, die Antwort auch aufzuschreiben. So bin ich bei Ursel angekommen. Am nächsten Tag reiste ich weiter nach Dresden. Das Aufbaulager sollte beginnen.  

Dietrich und Eva haben uns empfangen und über das Konzept der Aufbaulager gesprochen, etwa so: Ökumenische Aufbaulager, ihre Intention und Aufgabe, sind in vielen Ländern aller Kontinente bekannt. Seit vielen Jahrzehnten gibt es Aufbaulager säkularer Organisationen. Auf den Trümmern des zweiten Weltkrieges bekam diese Idee neues Leben, auch in kirchlichen Gruppen. Die Jugend der verschiedenen Kirchen und Denominationen übernahm 1948 diese Möglichkeit des Dienstes für andere. Mit der Beseitigung von Ruinen wollte sie zur Versöhnung der Völker beitragen und ein besseres Zusammenleben ermöglichen. In der Arbeit der Versöhnung der Völker ist zugleich die Versöhnung der Konfessionen und Kirchen eingeschlossen. So geht es von Anfang an um die Erneuerung der Kirchen und die Mitarbeit an den Aufgaben der Gesellschaft. Darum liegt hier der besondere Reiz für uns, als Jugend der verschiedenen Kirchen. Dietrich: Ich bin nicht objektiver Beobachter ‚der Jugend‘, sondern gehöre dazu. Wir sind nur eine relativ kleine Gruppe. Von Zahlen und attraktiver Organisation halten wir nicht viel, umso mehr von Verbindlichkeit und persönlichem Engagement. Statt in der Diskussion stecken zu bleiben, möchten wir Denken und Tun miteinander verbinden. Für uns gehört beides eng zusammen. Das eine muss das andere bestimmen. Wir wollen die Kirche nicht durch neue Methoden der Verkündigung aufschminken. Restaurierung, Wiederherstellung vergangener Positionen ist nicht unser Ziel. Christus stellt uns durch die Welt, in der wir leben, grundlegend in Frage. Erneuerung der Kirche kommt aus der Mitte des Evangeliums, und dabei zerbrechen unsere Traditionen und christlichen Grundsätze. Darum fragen wir nach dem Evangelium für unsere Zeit und Situation.

„Christus ist für die Welt – Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist. Sie muss an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend. Sie muss den Menschen aller Berufe sagen, was ein Leben mit Christus ist, was es heißt, für andere da zu sein.“ (Dietrich Bonhoeffer) Die Lager bieten uns die Möglichkeit, etwas vom Dasein für andere zu lernen und die von kirchlicher Betriebsamkeit, gepaart mit christlichem Individualismus, überwucherte neutestamentliche Begründung der Gemeinde Christi für unsere Zeit wieder zu finden. Sie sind der Ort, an dem wir für unser tägliches Leben in Gemeinde und Gesellschaft probieren und experimentieren. Entscheidend dabei ist, dass wir nicht unverbindlich theoretisieren, sondern dass ein gewisses Maß von persönlichem Einsatz hinzukommt. Die Probe auf das Gelernte und Erkannte wird später der Alltag sein.

Nach Dietrichs Meinung gehörten zur Arbeit im Aufbaulager gemeinsames Bibelstudium, Gebet und Fürbitte, das Nachdenken über unseren Weg und unsere Verantwortung, die intensive und kritische Beschäftigung mit der Geschichte und ihren Forderungen an uns.

Die Bibelarbeit habe ich mir ganz anders vorgestellt. Meiner Meinung nach war es gar keine Bibelarbeit! Es war Aberglaube, Ketzerei, Provokation! Dietrich ist immer ruhig und freundlich geblieben. Die Atmosphäre war locker, sogar humorvoll. Es gab keine hierarchischen Verhältnisse; jeder wurde mit Du angesprochen. Dietrich strahlte wohl eine natürliche Autorität aus, aber ohne Zwang. Allmählich wurde ich etwas unsicherer. Später fing ich an, darüber nachzudenken: Vielleicht ist es der Mühe wert.

Ungefähr so weit war ich diese Woche mit meiner Betrachtung, als Bert mit einer alten Notiz von Dietrich zu mir kam. Ich wollte gerade versuchen, wiederzugeben, welche Gedanken für mich zu einer Offenbarung wurden. Es war schwierig für mich, die richtigen Worte und Ausdrücke zu finden, und auf einmal hatte ich den originalen Text von Dietrich zur Verfügung. Ich zitiere Dietrich: 

„Weil Gott in allen großen Wandlungen, die in unserer Zeit geschehen, am Werk ist, können wir ihn nicht in die Vergangenheit verbannen. Darum genügen uns nicht zeitlose christliche Lebensregeln, sondern wir möchten vom Evangelium her wissen, was wir heute in der DDR und in Ungarn zu tun haben. Diese Frage nach dem weltlichen Engagement beschäftigt vielen Christen in der ganzen Welt, weil Jesus Christus nicht länger für den kirchlichen oder religiösen Sektor vereinnahmt werden darf. Besonders dringend und schwerwiegend ist dieses Problem für die Kirchen in den Ländern, in denen die bisherige Gesellschaftsordnung revolutionär umgestaltet wird. Wenn Leben und Lehre Jesu Christi für uns nicht in organisierter Langweile und bedeutungsloser Religiosität enden sollen, dann muss uns seine Wirklichkeit in unserer heutigen Situation treffen. In unserer kirchlichen Praxis und unserer Gemeindestruktur begegnen wir weithin traditionellen „christlichen“ Grundsätzen und Lebensregeln, sie treffen aber nicht mehr unsere Wirklichkeit und haben kaum Gewicht für unsere Entscheidungen „in der Welt“. Hier zeigt sich der theologisch zwar überwundene aber in der Praxis längst noch nicht verabschiedete Dualismus von ‚Kirche‘ und ‚Welt‘. So können wir Kirche nicht mehr statisch verstehen, sondern nur dynamisch, und darum auch das Institutionelle an ihr nur von der Aufgabe her. Durch das Zerbrechen alter Ordnungen in der neuen Fragestellung, die sich aus der neuen Situation ergibt, sind wir unsicher über unseren Weg. Darum ist die Versuchung groß, sich am Institutionellen festzuhalten. Dies aber bedeutet den geistlichen Tod unserer Kirchen und Gemeinden durch ungläubige Lethargie. Erneuerung der Gemeinde ist nicht Sache der Organisation, sondern des Lebens, ist nicht Frage nach dem ‚Wie‘ der Verkündigung, sondern nach dem Inhalt. ‚Christen sollten Spürhunde des lieben Gottes sein, die Nase am Boden, um zu schnuppern, wo der Herr hingegangen ist.‘ (Horst Symanowski) Dabei werden wir vielleicht – oder sicher? – sehr ungewohnte und gefährliche Wege ‚hinter ihm her“ gehen müssen, zu Menschen und Gruppen, an denen wir bisher bewusst vorbeigegangen sind. Möglicherweise erschrecken wir auch über die ‚Irrwege‘ oder darüber, dass der Weg nicht in der Kirche endet. Aber nur in dieser Bereitschaft, dem lebendigen Herrn zu folgen und ihn in seinem Tun unter den Menschen zu entdecken, kann die Erneuerung der Kirchen beginnen. 

In der Arbeit eines Lagers erfahren wir, dass wir uns nicht von unserer gesellschaftlichen Bindung distanzieren können, ohne zugleich die Ganzheit des Evangeliums aufzugeben. Notwendigerweise ist darum die Gesellschaft, in der wir leben, mit ihren Belangen, Forderungen und Aufgaben das Thema unserer Lagergespräche. Wir können diesen Fragen nicht mehr ausweichen, da wir im Alltag vor Entscheidungen gestellt werden. Die Gemeinschaft eines Aufbaulagers arbeitet und lebt nicht abgeschlossen im kirchlichen Raum, sondern vielmehr in der Beziehung zu anderen Menschen auf der Baustelle und den täglichen Aufgaben der Umwelt. Sie will nicht der Fluchtort für die ‚Ferien von der Umwelt‘ sein, sondern uns helfen, unser Engagement zu entdecken und einzugehen. Dabei versuchen wir in der gemeinsamen Beratung und dem Bibelstudium die traditionellen Vorurteile gegenüber unserer Zeit zu überwinden und ihre technische und gesellschaftliche Entwicklung sachlich zu sehen und zu verstehen. In der kurzen Zeit eines Lagers kann ein solches Gespräch nur begonnen werden. Wir mögen Fehler begehen, aber wir vertrauen auf den Heiligen Geist.“

Zurück in Ungarn habe ich sehr intensiv an deutschen Sprachkursen teilgenommen, weil Dietrich nicht bereit war, ungarisch zu lernen.

lm nächsten Jahr fuhr ich zum Ostertreffen nach Berlin. Ein Jahr später war ich Lagerleiterin in Niesky. In der Zwischenzeit hatten wir regelmäßig Gesprächskreise bei Jozsef Farkas, zusammen mit anderen Jugendlichen aus der Gemeinde von Farkas und Studenten anderer Universitäten. Beim Ostertreffen 1966 habe ich Bert kennen gelernt. Er hat mich eingeladen zu einem Lager in Holland, aber ich bekam keinen Pass für die Reise in den Westen.

Eines Tages im Herbst 1967 wurde ich von der Geheimpolizei angerufen. Am nächsten Tag müsse ich mich melden, aber niemand dürfe davon wissen. Natürlich habe ich es einem guten Freund erzählt, falls ich nicht zurückkäme. Das Verhör war unheimlich: Wer war im Aufbaulager? Worüber haben wir gesprochen? Was bin ich gefragt worden? Welche Aufgaben habe ich dort bekommen? Und so weiter. Die Aufbaulager seien nämlich ein Deckmantel und in Wirklichkeit eine Organisation des westdeutschen Geheimdienstes – behaupteten sie. Alle Teilnehmer waren deshalb potentielle Spione. Ein Pfarrer aus Budapest, Bálint Kovács, der auch zu unserem Kreis gehörte, sei ebenfalls verhaftet und habe alles bekannt, erzählten sie mir. Sein Geständnis und seine Unterschrift haben sie mir gezeigt. Ich müsse wissen, dass auf Spionage die Todesstrafe stehe. Nach drei Stunden ständigen Verhörs durfte ich nach Hause gehen, um darüber nachzudenken. Nach einigen Wochen wollten sie mich wieder verhören. Voll Angst wartete ich auf den nächsten Anruf, der nicht mehr kam. Nach einigen Wochen wurde Pfarrer Bálint Kovács auch freigelassen. War Dietrich also ein Agent des westdeutschen Spionagedienstes?

Seit 1968 bin ich mit Bert verheiratet und nach Holland übergesiedelt. Eine ganz andere politische Situation, eine andere ‚Umwelt‘. Ich wurde aktiv in der Friedensbewegung. War es eine andere Friedensbewegung als die in Osteuropa? Ende der achtziger Jahre bekam unsere holländische IKV-¬Gruppe kein Visum mehr für die DDR. In Ungarn hat 1968 mit dem so genannten „neuen Wirtschaftsmechanismus“ auch eine neue Periode begonnen. Das bedeutete mehr Freiheit für Unternehmen, sowie im geistigen Leben. Ich war erstaunt, dass ein Film von Pasolini, der in Holland einige Wochen durch die Filmzensur verboten war, in Budapest in allen großen Kinos zu sehen war. Kádár hat in Ungarn im Laufe der Zeit den Gulasch-Kommunismus aufgebaut.

Dietrich haben wir nicht mehr so oft gesehen und gesprochen. Unsere ‚Umwelt‘ in Holland und auch in Ungarn war ganz anders. Wir waren nicht immer derselben Auffassung, aber das Vertrauen ist geblieben.

In den letzten Wochen habe ich oft an Dietrich gedacht. Was würde er nach dem 11. September sagen? Sicher etwas ganz anderes als die Regierungen, die Medien und die meisten Politiker. Jetzt erfahre ich wieder, was für einen großen Einfluss Dietrich noch immer auf mein Denken hat. Ohne Dietrich wäre mein Leben anders verlaufen.