Aug 012014
 

Konkret und verbindlich

Von Britta Lissner Nicholson

Meine erste Begegnung mit Dietrich Gutsch war an einem sehr frühen Sonntagmorgen im Jahre 1957, als ich mit dem Nachtzug von Kopenhagen um sechs Uhr auf dem Ostbahnhof ankam. Es war mein erster Besuch in Berlin, und ich war gespannt darauf, was zu erwarten wäre. Ich wurde von einem sehr netten und freundlichen jungen Mann mit einer Alpenmütze auf dem Kopf begrüßt. Dietrich lud mich fröhlich zu einer Fahrt auf seinem Motorrad ein und bald saß ich hinter ihm und fuhr durch eine damals immer noch stark verwüstete Stadt. Irgendwo (am Spittelmarkt?) kamen wir in einer Wohnung an, wo er mir ein Frühstück anbot und danach ein Bett, auf dem ich nach der Nachtfahrt einige Stunden Schlaf nachholen konnte. „Danach“, sagte er, „wirst Du nach drei Stunden von jemandem geweckt werden, der mir ähnlich sieht, nur etwas dicker, und Du kannst mit ihm zum Aufbaulager fahren.“ So geschah es. Drei Stunden später stand Gerhard Fuchs da, auch mit Alpenmütze auf dem Kopf, und hinten auf seinem Motorrad fuhr ich also zum Aufbaulager.

So fing etwas an, was für mich ganz wesentlich wurde, die Erfahrung einer festen Zugehörigkeit und ein prägender Einfluss auf mein Leben. Die Kombination von Wagnis, Vertrauen und Lustigkeit war und blieb charakteristisch. Unsere Gemeinschaft wurde durch Dietrichs groβen Fleiß und dauerhafte Unermüdlichkeit geschaffen und erhalten – darunter unzählige Abholungen morgens früh von Ostbahnhof. Wesentlicher noch war die klare, starke Verbindung, die er zwischen Evangelium und Welt, zwischen Glauben und Handeln setzte. Der Sonntag wurde mit den übrigen Wochentagen verbunden, die zwei Reiche wurden zu einer Welt, wurden in unserem Leben zusammengeführt, und für mich bedeutete das die Überwindung einer schmerzlichen Spaltung in meinem Bewusstsein zwischen dem Individuum und der Sozialarbeiterin. Der bekannte Spruch des Weltkirchenrates „Mit der ganzen Kirche für die ganze Welt“, der den tiefsten Sinn der ökumenischen Bewegung ausdrückt, war für Dietrich nicht nur ein schöner Gedanke, sondern eine leidenschaftliche Lebensorientierung, mit der er uns angezündet hat, eine Fackel, die er an uns weiterreichte. Die Welt war nicht mehr nur die Welt, sondern Gottes Welt. Eines Ostern hörten wir in der Predigt: So liebte Gott die Welt. Nicht die Kirche, sondern die Welt liebte er. Nach Johannes bedeutet das die von Gott abgewandte Welt, und gerade diese Botschaft war wesentlich für diejenigen, die in einer atheistischen Gesellschaft lebten, aber auch sehr bedeutsam für jemanden, der in dem säkularisierten Dänemark wohnte. Es bedeutete auch eine Welt, in der wir wie kleine Hunde seinen Fußstapfen nachschnuppern sollten (Symanowski). Manchmal verlieren wir die Spur oder den Mut, ihr zu folgen, manchmal zweifeln wir daran und trauern darüber. Aber nie wieder wurde das Evangelium eine Sache nur der persönlichen Erlösung und der individuellen Unsterblichkeit, sondern ein notwendiger und unausweichlicher Aufruf zu einem Engagement für ein Leben vor dem Tod für alle Menschen. Daraus entsprang die Vision, die durch Dietrich bald zu unserer eigenen geworden ist, die Vision der Kirche als Ort der kritischen Solidarität und der Selbstkritik.

Dietrich war durch und durch unsentimental. Er scheute die flotten Sprüche und Phrasen. Einmal erlebte ich, wie er seinen Sohn Christoph nach der Schule energisch ausfragte, was das mitgebrachte aktuelle Schlagwort: Wir stellen uns hinter Cuba! konkret bedeutete. Der kleine Christoph fand es schwer, auf die Fragen des Vaters zu antworten. Dietrich verlangte stets Sachlichkeit. „Dazu gehört Wissen“, sagte er, „konkrete Information“. Deshalb gab es auf allen unseren Tagungen Berichte, in denen aus persönlicher Erfahrung informiert wurde. Konkret und verbindlich zu sein, war immer ein Anliegen Dietrichs. Seitdem habe ich mich mit großen Worten manchmal schwer getan. Ich hatte Dietrichs Frage an Christoph im Ohr: Aber was heiβt das konkret und verbindlich?

Konkret und verbindlich führt manchmal zu unbequemen Positionen. Wenn man unbequeme, nicht angepasste Dinge sagt und tut, geht man trotz aller Freundschaft doch einen einsamen Weg. Und das hat seinen Preis, innerlich und äußerlich. Mein Mann erinnert sich an einen Abend unter vier Augen mit Dietrich bei einem seltenen Besuch in London. Da sprach Dietrich offenherzig davon, wie er unter dem Mangel an Vertrauen litt, den er in vielen kirchlichen Kreisen und Leitungsgremien erlebte. Er arbeitete bewusst in einem Grenzgebiet, hielt Türen auf eine Weise offen, die auch der organisierten Kirche zugute kam. Wieso werde seine Person und seine Integrität in Zweifel gezogen, weil er (mit evangelischer Freiheit) diese anderen notwendigen Aufgaben auf sich nehme? Das war eine seltene und kostbare persönliche Äußerung eines sensiblen Menschen, dessen Leben sonst von einem ungewöhnlichen Grad an Selbstentäußerung geprägt war und bei dem eigene Gefühle oft hinter der Aufgabe verborgen blieben. Diese Spannungen haben ihn die Gesundheit gekostet, und ich denke, es ist nicht zu viel gesagt, da er sein Leben für diese Aufgabe, auch für unsere Gruppe, gegeben hat.

Mitten drin war aber auch immer Humor dabei. Wir haben viel zusammen gelacht, und ich hoffe sehr, dass dieses gemeinsame Lachen auch ihm gut getan hat. Dabei war es ihm auch sehr wesentlich, da die schöne, lustige, lebhafte Gemeinschaft unseres Ostertreffens nicht zu einem Ziel an sich würde. Ich erinnere mich an eine Schlussandacht oder Abschiedsrede von Dietrich bei einem Ostertreffen. Er ging von der Episode der Verklärung Jesu auf dem Berg aus und gab uns eindringlich mit auf den Weg, dass die Jünger sich an dem schönen Erlebnis nicht festklammern sollten. Der Weg bergab ginge zurück in die Welt, in den Alltag. Dort sei die eigentliche Aufgabe, nämlich Salz und Licht für die Welt zu sein. Eva Richter hat mir gesagt, dass für sie das Wesentliche an Dietrichs Haltung darin bestanden hätte, jeweils die Situation, in der er sich gerade befand, anzunehmen und ernst zu nehmen.

Ein Beispiel dafür, wie Dietrich das verstand: Er sprach ab und zu darüber, dass man den Beamten der DDR menschlich und mit Respekt begegnen solle und dass man sie mit ihren selbst erklärten guten Absichten des Sozialismus beim Wort nehmen solle. Auf das Gute in den politischen Vorstellungen, zu denen sie sich ausdrücklich bekannten, komme es an, und man solle sich nicht irgendeinem Feindbild über diese Menschen unterwerfen.

Beim Nachdenken über unsere heutige Lage und über das, was Dietrich uns jetzt bedeuten könnte, habe ich folgendes gedacht:

Wir sollten unsere Politiker und Beamten auch heute auf ihre erklärten guten Absichten und Prinzipien festnageln, statt ihnen mit Apathie und Verachtung den Rücken zu kehren. Dies kann ganz verschieden aussehen, z.B. viele Leserbriefe schreiben, die geprägt sein müssen von Sachlichkeit, wie Dietrich sie forderte.

Genau wie wir damals den ‚eisernen Vorhang‘ durchquerten und uns mit den so genannten Feinden ins Gespräch wagten, um des Friedens und um der Menschheit willen, liegt die Aufgabe von heute darin, neue Vorhänge zu zerreißen, zum Beispiel das neue Feindbild, das in unseren Ländern in den Augen vieler jetzt den Muslimen anhaftet durch Begegnungen und Gespräche abzubauen. Überall dort, wo Menschen aus irgendwelchen Gründen von der Gesellschaft ausgestoßen und verteufelt werden, ist es, im Sinne von Dietrich, die Aufgabe, den Fußspuren Jesu nach zu schnuppern, die zu diesen Menschen führen und auch die Machthaber von heute bei ihren eigenen schönen Absichten zu behaften.

Wir sind zutiefst dankbar und werden es immer sein, Dietrich als guten Freund gekannt zu haben und von seinen Gedanken geprägt zu sein. 


Solidarisch – verantwortlich – frei  Von Günter Siebert

Ich habe an 5 Aufbaulagern teilgenommen. Zwei hatte Dietrich vermittelt: Magdeburg 1956 und Wiebelskirchen 1957. In Eisenach 1958, Dresden 1959 und Nicsky 1963 hatte er mich als Lagerleiter in die Pflicht genommen und eigene Verantwortung übertragen – eigentlich auferlegt.

Ich erinnere mich, als ich Ende August 1957 aus Wiebelskirchen zurückkam, war es aus mit Westreisen schlechthin und mit West-Freunden in künftigen Ost-Aufbaulagern. Nun stand die Frage, ob wir den Laden dichtmachen oder uns der neuen Lage stellen würden. Wir haben die Bibel befragt und miteinander diskutiert. Was kam raus? Es geht uns nicht um uns, nicht um unser Wohl, sondern „der Stadt Bestes“ sollen wir suchen. Das war uns – jedenfalls mir – neu, hatte ich doch einen mehr oder weniger frommen Hintergrund. Das führte – ich denke an Eisenach 1958 – zu heftigen Debatten und vielleicht auch zu Entzugserscheinungen. Dietrich stand uns bei. Er wusste wohl um unsere Befindlichkeiten, was es damals hieß, abgenabelt zu sein, selbständig zu sein. Dass das schon der Beginn einer neuen großen Freiheit war, konnten wir nur ahnen.

Unvergessen das große Lagertreffen in Berlin 1958. Dietrich ließ nicht locker: Wer sind wir? Für wen sind wir da, für uns oder (auch) für andere? Worin bestand die Chance? Was waren die Konsequenzen? Einmischen, solidarisch und gleich sein, mittun wollten wir. Es riskieren, ohne die schützenden Kirchenmauern auszukommen – aber nicht etwa als „fünfte Kolonne“, auch nicht als verkappte Missionare.

Es war 1959, Dietrich hatte die Dresdner Stadtoberen überzeugt; sie akzeptierten ihn und uns. Wir hatten endgültig Bodenberührung, und der Boden erwies sich als tragfähig. Immer noch ist mir gegenwärtig: Dietrich besucht uns bei der Arbeit und legt mit Hand an beim Bau von Wohnungen im Dresdner Zentrum. Präses Kreysig geht bei uns in die Schule für seine geplante „Aktion Sühnezeichen“ und volontiert eine Woche lang. Die Stadtverwaltung besucht uns in unserer Unterkunft in der Versöhnungskirche und ist erstaunt, dass wir ganz normale Menschen sind. Wir sind „in der Welt“ angekommen! Stellvertretend für das ganze ökumenische Aufbaulager Dresden 1959 erhalten Alice und ich die Silberne Aufbaunadel der Stadt Dresden.

Dietrich hat uns immer wieder auf seine Weise gesagt, was er erkannt hatte – freundlich und frei, nachdenklich und konsequent, oft überraschend. Er war nicht nur mein Lehrer, er war mein Trainer. So wurden immer mehr seine Anregungen zu meiner Erfahrung. Auf ihm konnte ich mich einlassen und verlassen. Er war mein Freund.

Konsequenzen waren unvermeidlich, spätestens nach meinem Dresden-Lager 1959. Aus war es mit unverbindlicher, folgenloser Betrachtung aus höherer Warte. Wollte ich dem treu sein, was Dietrich bei mir angestoßen hatte, blieb mir nur Handeln: vor Ort, konkret, verantwortlich. Ich stellte mich Ende der 50er Jahre der Rechtspflege als Laie zu Verfügung. Daraus wurden fast drei Jahrzehnte als Vorsitzender einer Konfliktkommission in einem Volkseigenem Betrieb (VEB) und etwa ebenso lange als Schöffe (letzteres bis Mitte der 90er Jahre). Das war nichts, womit man überwintern und sich raushalten konnte. Das war Verantwortung pur, aber auch Solidarität, Hoffnung, Gerechtigkeit, Freiheit. Nie bin ich in all den Jahren gebeten, gedrängt, genötigt, gezwungen, bedroht worden.

Ob das ein schwacher Abglanz der Freiheit war, die Dietrich uns vorgelebt und zu der er uns ermutigt hat? Manchmal denke ich, es war so. Ich gebe zu, ich habe mich nie nach Verantwortung gedrängt, aber immer wieder darin vorgefunden. ‚Wer, wenn nicht du ….!‘ Ohne Dietrichs Denkschule und lebendige Gemeinschaft der Freunde ging das nicht.

Das war auch später so, etwa 1989/1990, und das ist bis heute so. Einmischen – solidarisch, verantwortlich, frei. Das kostet was, ist unbequem. Das ist aber auch gar nicht kompliziert, sondern eine einzige große Freiheit.

Vielleicht ist mir in oder seit den intensiven Jahren mit Dietrich auch etwas abhandengekommen: die fromme Sorge um mich. Jedem, der es hören will, sage ich: Der liebe Gott hält mich an einer langen, aber festen, wenn auch für andere unsichtbaren Leine. Macht euch deshalb keine Gedanken!

Sollte ich damals und heute das eine bewirkt oder das andere verhindert haben, dann beriefe ich mich auf Dietrich. Für die Leute sollte es allemal sein. Wenn Kategorien wie Gerechtigkeit, Freiheit, Verantwortung, Hoffnung und Zukunft eine Rolle gespielt haben sollten, wäre ich froh. Vielleicht auch Dietrich.