Aug 012014
 

Vier Bemerkungen zur Erinnerung

Von Giselher Hickel 

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Aus dem Vielen, was mir in den Wochen der Vorbereitung dieses Treffens durch den Kopf gegangen ist, möchte ich drei Dinge herausgreifen: 

(1) Das Erste geht bereits auf meine erste Begegnung mit Dietrich zurück: Ich war als Schüler und Student ehrenamtlich im Arbeitskreis für evangelische Schülerarbeit der Sächsischen Landeskirche tätig. Zu einer der Sitzungen, es muß Anfang oder Mitte der 60er Jahre gewesen sein, war Dietrich als Gast eingeladen. Er sprach über Ökumene. Aber wie wohl so oft war das Interesse eigentlich darauf gerichtet, ihn nach seiner Position im Verhältnis der Christen zum Staat zu be- und zu hinterfragen. Dabei ist mir eine Passage des Gespräches für immer im Gedächtnis geblieben. Dietrich stellte die Frage, wer in der DDR-Gesellschaft eigentlich die Starken, Tonangebenden, Mächtigen seien, und wer die Schwachen, denen unsere Solidarität zu gelten habe. Natürlich schien die Antwort auf der Hand zu liegen: Als Christen gehörten wir zu den Unterdrückten. Natürlich waren Staat und Partei die Träger der Macht, denen es zu widerstehen galt. 

Dietrichs Frage intendierte eine andere Sicht. Aus Ökumenischer Perspektive waren die Protagonisten einer neuen, nichtkapitalistischen Weltordnung eine Minderheit. Die Supermachtgebärden der Sowjetunion und die Berufung auf die angeblich unerschütterliche historische Zwangsläufigkeit des Epochenwechsels konnten kaum über die strategische Schwache des Sozialismus hinwegtäuschen. 

Aber auch DDR-intern waren die Kräfte, die wirklichen Wandel, das heißt die Veränderung des Verhaltens zusammen mit den Verhältnissen wollten, oft genug in der Defensive. Sie standen unter dem Druck einer westlichen Wirtschaftsmacht und Propaganda von höchster Intensität und äußerstem Geschick. Sie mussten sich stets rechtfertigen gegenüber einer neidvoll nach dem Westen schielenden Bevölkerungsmehrheit. Sie waren konfrontiert mit weitgehend antikommunistisch ausgerichteten Kirchen, die ein hohes gesellschaftliches Prestige genossen. 

Indem Dietrich so fragte, tat er zwei Dinge zur gleichen Zeit: Er entzauberte das sozialistische Gegenüber in einer, angesichts der verhärteten ideologischen Fronten, souveränen Manier. Er tat es nicht aus einer allenthalben anzutreffenden antisozialistischen Schadenfreude heraus, sondern werbend für eine Teilnahme an dem mühsamen, unpopulären Ringen um eine gerechtere und friedlichere Gesellschaft. 

Giselher Hickel

Giselher Hickel, 09.05.2004
Foto: Rona Röthig

Das war für mich eine Perspektive, die meiner bisherigen diametral entgegengesetzt war. Sie hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Dietrich befand sich in kritischer Solidarität mit den Genossen. Aber während das kirchliche Schlagwort der kritischen Solidarität beinhaltete, dass man sich grundsätzlich auf ein Miteinander einließ sich in der Praxis aber jede Distanzierung vorbehielt, bedeutete es bei Dietrich, daß er den Sozialismus durchaus kritisch analysierte, um sich dann für eine unbedingte Solidarität zu entscheiden. Nicht wegen seiner Stärke, sondern trotz und (recht verstanden) wegen seiner Schwäche, war er ein entschiedener Sozialist. Deshalb gab es wohl auch für ihm nicht den Punkt der Abkehr, den manche andere Linke in ihrer Biographie beschreiben, die für sich in Anspruch nehmen, lange Zeit für den Sozialismus Sympathie gehabt zu haben, bis sie schließlich einsahen, dass sie Hoffnung an der falschen Stelle investierten. Von Dietrichs Ansatz herkommend, empfand ich das Scheitern des Sozialismus im Grunde genommen nicht als überraschend. Wir wussten ja, dass er in der bipolaren Weltsituation der schwächere Antipode war. Ich behaupte damit nicht, dass mich die unmittelbaren Wendeereignisse nicht überrascht und auch verwirrt hätten. Aber in den tiefsten Schichten des Bewusstseins brach mir nicht eine Welt zusammen, sondern die Welt folgte lediglich ihren Gesetzen. Den Lauf zu ändern – das war nicht gelungen. Bisher immer noch nicht. 

(2) Das zweite, was ich sagen möchte, hat noch direkter mit Theologie zu tun, und speziell mit der Auffassung über die Kirche. Ich habe Dietrichs Art auf den ersten Blick oft als widersprüchlich erlebt. Einerseits war er ganz auf Kirche bezogen. Anderseits konnte er radikal kirchenkritisch reden. 

Ein Schlüsseltext für Dietrichs Nachdenken über Kirche war Epheser 2, 14: Denn er ist unser Friede, der aus beiden eines hat gemacht und hat abgebrochen den Zaun, der dazwischen war, nämlich die Feindschaft. Dietrich hat in vielen Vorträgen und Predigten auf diesen Bibeltext Bezug genommen (soweit ich sehe, ohne dabei explizit das christlich-jüdische Verhältnis zu reflektieren, das bei Paulus zunächst angesprochen ist). Er warnte davor, Gemeinde als einen abgeschirmten Raum zu verstehen, dessen Grenzen zu verteidigen seien – besonders die Grenze zwischen Glaubenden und Atheisten, zwischen Christen und Kommunisten. “Wo die Grenzen fallen, beginnt Gemeinde“. Wo aus zwei eines wird, wo aus Feindschaft Kooperation wird, da ist Gemeinde lebendig. Das war die Grundlage für Dietrichs Ökumene-Verständnis. Es war auch der Hintergrund für sein Verständnis von Mission – nicht die Erweiterung der Grenzen der Kirche, Mission nicht als Expansion der Mitgliederzahlen, sondern eine die geographischen und vor allem die ideologischen Grenzen überschreitende Kooperation zum Wohle aller. Die heilsgeschichtliche Bewegung ist nicht die von Gott – über die Kirche – zur Welt. Vielmehr liebt Gott die Welt und will sie zu einem Ort der Gerechtigkeit machen, und die ihm dabei zur Seite stehen, sind Gemeinde. 

(3) Die ihm dabei zur Seite stehen – als solche sah Dietrich u.a. auch manche Genossen, übrigens auch solche innerhalb des Ministeriums für Staatssicherheit. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Dietrich, es muss eines der ersten gewesen sein, in denen es um die Staatssicherheit ging; Dietrich meinte, in diesem Laden gab es mehr gute Genossen, als in vielen anderen Dienststellen (was implizierte, dass es auch weniger gute Genossen gab). 

Ich weiß nicht, ob Dietrich es nötig hat, an diesem Punkt verteidigt zu werden. Ich möchte, und das ist mein dritter Punkt, auch an dieser Stelle eher versuchen, seinen Ansatz fruchtbar werden zu lassen: 

(a) Einer, der sich für heute abgemeldet hat, schrieb, ihn wurde doch sehr interessieren, ob die ‘Stasi’ auf die Arbeit des Ökumenischen Jugenddienstes Einfluss gehabt habe. Natürlich hat sie das. Dietrich hat notorisch Grenzen überschritten und natürlich war das MfS stets involviert, wenn Grenzen politische oder auch ideologische Grenzen verletzt wurden. Oft geschah das ohne Aufhebens. Mitunter gab es aber Konflikte, und dann war es unser lebhaftes Interesse, nicht passiv zu warten, was uns schließlich beschieden werden wurde, sondern unsere Position zu verteidigen. Das konnten Anträge auf Erteilung von Visa sein, oder Ideen und Konzeptionen für Programme und Konferenzen. Das konnten aber auch sehr ernste persönliche Vorgänge sein. Vera hat uns gestern ein Beispiel dafür berichtet, wie oberflächlich die Staatssicherheit in Ungarn die Ökumenische Arbeit beurteilte. An solchen Stellen konnte Dietrich auch sehr zornig werden und den Genossen die Leviten lesen für Schludereien und Schwachsinn, den sie oder Kollegen in befreundeten Dienststellen sich zuschulden kommen ließen. Mindestens ebenso viel Relevanz wie die Frage, ob die Arbeit des Ökumenischen Jugenddienstes vom Ministerium für Staatssicherheit beeinflusst war, hätte die Frage, inwieweit der ÖJD die Arbeit des MfS beeinflusste, oder besser die Kirchenpolitik in der DDR und in den anderen sozialistischen Ländern. Die Einbeziehung der osteuropäischen Kirchen in die weltweite Ökumene – obwohl diese westlich geprägt gewesen ist – war nicht selbstverständlich. Es bedurfte solcher Gestalten wie Josef Hromádka, Hans Joachim Iwand und auch Dietrich Gutsch mit vielen anderen in den Geschichtsbüchern nicht Genannten, um den Weg dafür zu ebenen, um Verständnis zu wecken, um Hindernisse aus dem Weg zu räumen, um in mühseliger Kleinarbeit die führenden Genossen zu überzeugen, dass sie die politisch Voraussetzungen dafür zuließen. Die Jugendarbeit war dabei nur ein Praxisfeld – aber ein wichtiges, das Experimente erlaubte. Auf dem Feld der Jugendarbeit gelang es, Räume zu eröffnen für Austausch, Räume für wirkliche Begegnung in der Tiefe, Räume für Bekehrungen, Räume für Zusammenarbeit. 

In diesen Zusammenhang gehören nicht nur die Aufbaulager. Mit dem Ökumenischen Jugendrat in Europa entstand eine Struktur der Ökumenischen Jugendarbeit, bei der es um solche Räume ging. Dietrich war seinem Aufbau maßgeblich beteiligt. Und wir haben es geschafft, dass 1978 erstmals ein Generalsekretär einer gesamteuropäischen Institution aus einem osteuropäischen Land kam, und dass das Büro, von dem aus die Ost-West-Struktur geleitet wurde, im Osten angesiedelt war. Wenn es dabei um die Jugendarbeit ging, war das nie als separates Feld gemeint, sondern was hier gelang sollte Motor für die Veränderung und Erneuerung der Kirche sein. Der große Kummer von Dietrich war, dass es an dieser Stelle nicht weiter ging, dass die Kirchen blockierten. 

Noch einmal zum Ministerium. Natürlich waren die Konflikt-Partner keineswegs in erster Linie das MfS, sondern bestimmte Abteilungen innerhalb des Staatssekretariates für Kirchenfragen oder die Freien Deutschen Jugend (FDJ), für Dietrich selbst gelegentlich auch die Kirchenabteilung beim ZK der SED. Dietrich wollte Gemeinde Jesu Christi bauen, und deshalb wollte er systematisch Grenzen überschreiten – nach außen und nach innen. Politik hat immer mit dem Setzen von Grenzen zu tun, und Sicherheitsdienste verteidigen stets die von der Politik gesetzten Grenzen. Gemeinde bauen ist deshalb immer ein politisches Geschäft und ein Ringen mit den politischen Institutionen, Sicherheitsdienste eingeschlossen. 

(b) Im Einladungsbrief für dieses Treffen habe ich von der jungen Kirchenhistorikerin aus Leipzig geschrieben und davon, dass ihr “Leider” mich beschäftige. Ich habe es so verstanden, dass bei ihr einerseits aufgrund ihrer Studien und Recherchen über die Ökumenische Jugendarbeit Bewunderung und Hochachtung für Dietrich Gutsch entstanden sei. Dieses Bild trübe sich ihr aber aufgrund der Nachricht, dass Dietrich als “informeller Mitarbeiter“ des MfS registriert gewesen sei. (Dass es diese Kategorie gab, hat Dietrich selbst sicher nie gewusst, und wir haben es erst nach Auflösung des Ministeriums erfahren.) Ich verstehe ihre Enttäuschung. 

Zugleich muss ich aber mit Nachdruck darauf bestehen: Dies ist nicht wirklich der Punkt, an dem über Sympathie für Dietrich oder Distanz von ihm zu entscheiden ist, für Solidarität oder Abwendung, für ein “Glücklicherweise” oder ein “Leider”. Der Punkt ist, ob wir seiner politischen Theologie oder seinem Versuch als Christ politisch zu handeln Wahrheit und Wahrhaftigkeit zuerkennen oder nicht. Und das ist nun allerdings eine Entscheidung, die als theoretisches Urteil ziemlich belanglos ist. Viel wichtiger ist, was wir heute damit machen. Haben wir den Mut auch den Misserfolg und Scheitern unserer Ideen und ihrer Verfechter zu teilen? Haben wir den Mut, mit aller Konsequenz für politische Konzepte von Gesellschaft einzutreten, die offensichtlich schwächer sind als das herrschende System. 

(4) Ich füge dem einen vierten Punkt hinzu; Lodewijk Blok hat in seinem Beitrag gefragt, und die Frage ist mir vertraut, wie wurde Dietrich sich wohl heute verhalten? Wie hätte er sich zu der politischen Wende von 1989 verhalten? Ich bin mir ziemlich sicher, dass er kein Pionier der “Bürgerrechtsbewegung” der 80er Jahre gewesen wäre. Es ist uns oft vorgeworfen worden, dass wir über den weltweiten Zusammenhängen die Belange im eigenen Lande vernachlässigt hätten. Und die sich Bürgerrechtler nennen ließen, haben genau an diesem Punkt angesetzt: Sie haben die Belange im eigenen Land in den Vordergrund gestellt, ohne sich durch weltweite Zusammenhänge davon abhalten zu lassen. 

Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass Dietrich kein Gewinner der Wende gewesen wäre. Das hat mit einem Aspekt seiner Linie zu tun, den ich noch einmal hervorheben möchte. Dietrich war eine Integrationsfigur zwischen Ost und West. Allein schon der Kreis derer, die sich bis heute als seine Freunde verstehen macht das deutlich. Er war überzeugt, dass Ost und West zusammenkommen müssten – aber so, und nur so, dass in fairer Begegnung etwas Neues entstehen könnte. 

Er glaubte nicht an die Reformierbarkeit des Sozialismus ohne eine Reform des Kapitalismus. Dass er nach Prag 1968 als sozialistischer ‘Hardliner’ auftrat, hat unter anderem zu tun mit Paris 1968. Es ist ja nicht nur ein Prager Frühling in diesem Jahr im Eis erstickt, sondern auch ein westeuropäischer. Und das Reifen des einen hing ganz wesentlich vom Blühen des anderen ab. Ebenso hat das Scheitern von Perestroika und Wende vor allem damit zu tun, dass es nicht gelang, nach dem Fortfall der Konfrontation mit dem Osten im Westen grundlegende gesellschaftliche Veränderungen im Interesse von Gerechtigkeit und Frieden durchzusetzen. Siegesgefühl motiviert kaum für Bekehrung. 

Heute erscheint das westliche System stärker denn je, die Chancen zu seiner Reform sind geringer denn je. Aber natürlich ist es unter dem Etikett einer ‚globalen Marktwirtschaft‘ nicht akzeptabler und nicht zukunftsfähiger als zuvor. Es wird nicht bleiben. Es wird sich verändern müssen. Es wird einer gerechteren und friedlicheren Entwicklung Raum geben müssen. Nur wie wird das geschehen? Der Kollaps wird immer wahrscheinlicher. Ist es sinnvoll, dazu beizutragen? Aber sind die Konsequenzen tragbar und verantwortbar?

Es wäre gut, könnten wir mit Dietrich darüber reden. Jedenfalls ist es in seinem Sinn, wenn wir miteinander engagiert, nüchtern und praxisbezogen darüber diskutieren. Es ist in seinem Sinne, wenn wir bequemen Mehrheitsmeinungen skeptisch begegnen, sei es zu dem, was war, oder zu dem, was werden soll. Es wäre in seinem Sinne, wenn gesellschaftliche Fragen uns beim Lesen der Bibel umtreiben oder neu zum Lesen der Bibel verleiten. Es wäre in seinem Sinne, wenn wir einander offen begegneten, wann immer möglich zusammen lachten und Freundschaften pflegten, auch wenn wir sehr verschieden sind und manchmal heftig miteinander streiten.