Aug 012014
 

     

„Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch“ Joh. 20, 21

Von Dietrich Gutsch

Der Zusammenhang, in dem diese beiden Sätze stehen, ist uns bekannt. Die Jünger hielten sich am Abend nach dem Sabbat hinter verschlossenen Türen auf. Nach dem Justizmord an Jesus von Nazareth, den eine verhetzte Volksmenge mit dem Ruf „Kreuzige! Kreuzige!“ gefordert hatte, hielten sie sich versteckt. Möglicherweise suchte man in der Stadt nach Anhängern dieses Aufrührers. Vorsicht war geboten.

Maria Magdalena verbreitete unter den Jüngern die Nachricht, dass das Grab leer sei. Petrus konnte es bezeugen. Maria behauptete, den Herrn gesehen zu haben. Wer aber sollte einer Frau eine solch unglaubliche Geschichte glauben? Und warum sollte man ihr eigentlich glauben? Die Jünger hatten resigniert. Nicht einmal der Leichnam ihres Herrn war ihnen zur Erinnerungen an den gemeinsamen Weg geblieben. Man versteckte sich. Man musste erst wieder zu sich selbst finden. Es war noch nicht die Zeit, in der man zum Protest gegen Unrecht und Schläfrigkeit auf die Straße geht. Hinter verschlossenen Türen war mehr Sicherheit – aber auch sehr deutliche Resignation, Hoffnungslosigkeit.

Die Leute von damals haben mehr und mehr meine Sympathie, gerade in diesen Tagen. Machen wir uns Ostern nicht zu einfach, zu billig, zu oberflächlich? Christus ist auferstanden – Ostern der Sieg über den Tod, die Gesetzmäßigkeit, die Resignation. Diese gute Nachricht hat es schwer, sich heute noch Gehör zu verschaffen. In Vietnam wird ein Volk planmäßig vernichtet. Aller Protest, jedes Engagement gegen diesen Mord wird ignoriert und ist bisher ohne Erfolg. Macht und Tod haben immer noch das letzte und entscheidende Wort.

Die Saat der Gewalt geht auf – Martin Luther King und Rudi Dutschke stehen für die Getöteten und Verletzten, die gegen Diskriminierung und Menschenverachtung, gegen organisierte Verhetzung und stupide Meinungsmache gekämpft haben oder es noch tun. Die Gewalt zur Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen status quo hat das letzte Wort, bisher, und die Volksmassen auf ihrer Seite.

Die UNCTAD-Konferenz von Neu Delhi hat keinen wesentlichen Erfolg gehabt. Die Massenvernichtung von Menschen geht weiter. Man hat sich daran gewöhnt, dass Millionen Menschen verhungern. Es gibt kein Recht für die Ausgebeuteten und Unterdrückten – weil die Besitzenden an den Hebeln der Macht immer noch sicher sein können. Gute Pläne zur Änderung der unmenschlichen Situation können nicht verwirklicht werden, weil ein weltweiter, politisch aktiver Wille trotz des Einsatzes vieler nicht vorhanden ist.

Der Tod bekommt Recht. „Es hat doch keinen Sinn – wir können nichts ändern“, das ist die Sprache des Todes. Angesichts unserer Situation bekommt die Sprache des Todes immer mehr Gewicht und ständig neuen Auftrieb. Der Rückzug aus dem Engagement hinter verschlossene Türen der eigenen Anständigkeit oder der Resignation ist verständlich. Mit Entrüstung oder Draufgängertum werden wir weder in uns selbst noch bei anderen diese begründete Hoffnungslosigkeit überspielen können.

Hier aber wird uns deutlich, dass Ostern nicht zu beschaulicher Ruhe und Besinnung, nicht zum Rückzug in das Versteck einlädt. Ostern mit der Botschaft von der Auferstehung steht gegen uns – gegen unsere Erfahrung, dass es sinnlos ist, gegen die etablierten Mächte anzukämpfen – gegen unsere Erfahrung mit uns selbst. Ostern steht gegen unser Bedürfnis nach einer gewissen Sicherheit und Ruhe. Ostern macht uns unsicher – aus dem Wissen um Tod und Sinnlosigkeit führt es zur Unsicherheit der Hoffnung.

Die Jünger hatten Recht mit dem Rückzug hinter die verschlossenen Türen – es war die letzte verzweifelte Sicherheit, die ihnen geblieben war. Christus aber holt sie da heraus. Hinter verschlossenen Türen, unter sich und eingeigelt werden sie nie erfahren, was mit der Auferstehung geschehen ist. Sie müssen heraus in die Unsicherheit – gesandt mit dem Auftrag, ohne die Gegenwart ihres Herrn. So nur können sie erkennen, was Auferstehung Christi bedeutet. Auferstehung ist nicht die logische Fortsetzung der Geschichte Jesu – sie ist nur als Tat Gottes zu verstehen und darum nur im Glauben zu erfassen. Jeder Beweis, jede Sicherheit fehlen. Es ist nur der Auftrag da: „Ich sende euch, wie auch ich gesandt worden bin“. Zeichen und Begleitung dieses Auftrags sind missverständlich, ohnmächtig der Interpretation ausgeliefert: Die Worte der Bibel und die Tischgemeinschaft mit Brot und Wein.

Christus hat sein Werk in die Hände derer gelegt, die ihm glauben, die den Auftrag annehmen, seine Gesandten zu sein. Friede ist die Kraft ihrer Sendung. „Friede mit euch“ – das heißt Ende der Angst. Die Herrschaft der Schuld ist gebrochen. Das alles haben wir hinter uns und mit uns. 

Wir sind in diesen Tagen zusammen, um etwas deutlicher zu erkennen, was wir zu sagen und zu tun haben. Wir brauchen immer wieder, jeder an seinem Ort, die Beratung, das Gespräch und auch das Studium. Wir brauchen einander, um zu erfahren, was das heute für uns und unsere Welt heißt, dass Christus auferstanden ist und uns sendet, sein Werk zu tun. Nur so, immer wieder von vorn, gegen unsere Erfahrungen, immer als Entdeckung, erfahren wir, was Auferstehung Christi heißt. Nicht der Rückzug der Resignation auf eine sichere Position – sondern Angriff auf den status quo in Hoffnung.

Predigt im Tagungsgottesdienst, Ostertreffen 1968


Die Verantwortung der Christen heute für die Welt  Von Dietrich Gutsch

Das Thema fragt nicht danach, ob Christen eine Mitverantwortung für das haben, was in der Welt geschieht und geschehen sollte. Darüber sollten wir also nicht mehr streiten. Vielmehr, Christus hat uns in seine Gemeinde gerufen und damit zugleich auch wieder zurück in unsere Umwelt geschickt. Wir leben unter dem Anspruch unseres Herrn:

„Wer euch hört, der hört mich!“ (Lk 10,16)

Was machen wir mit dieser Verantwortung?

Es wäre Falschspiel, wenn wir uns vormachen würden, Antworten für heute und morgen bereits in der Tasche zu haben. Wir müssen uns schon gemeinsam in unseren Gemeinden und Jungen Gemeinden die Mühe machen, zu bedenken, was Christus heute sagt, was wir für ihn tun und sagen sollen. Dazu brauchen wir Sachkenntnis über die großen Probleme, um die es heute geht, dazu brauchen wir Kenntnis der Botschaft des Alten und des Neuen Testaments, dazu brauchen wir immer wieder das Gespräch miteinander, die verschiedenen Erkenntnisse, Meinungen und auch den Streit der Meinungen.

1. Jugend ist nicht eine Frage nach dem Alter, sondern nach der Denk- und Lebensweise. Es ist erschreckend, wie Jugend sich oft missbrauchen lässt, gedankenlos oder gar begeistert die Phrasen und Parolen der älteren Generation zu wiederholen – in der Kirche ebenso wie in der Gesellschaft.

Wenn junge Menschen nach eigenen Antworten suchen, wenn sie die Älteren (auch die „jungen“ Alten) zum Nachdenken provozieren, reagiert man meist in zwei Spielarten: (a) Man holt junge Leute in direkte Mitverantwortung (Betrieb, Synode, Gemeindeleitung) und zähmt sie damit bis ihre Denkweise sich der der Älteren angleicht. (b) Man hat das schillernde Wort vom ‚Generationenkonflikt‘ zu Hand. Das mag zutreffen, wenn junge Leute sich ihre eigene Welt neben der Gesellschaft, uninteressiert an jeder Veränderung, aufbauen. Das Schlagwort reicht aber zur Erklärung nicht aus, wenn Jugend sich auflehnt gegen eine von der älteren Generation geprägte, verunstaltete aber immer noch beherrschte Welt. Denken wir anders? Wollen wir die Welt mit ihren ungerechten Verhältnissen wirklich ändern? Was tun wir dafür?

2. Jährlich verhungern in der Welt 40 Millionen Menschen. Sie sterben, weil die Reichen reich bleiben wollen. Das Problem wird nicht durch Mitleid und milde Gaben beseitigt werden können. Wer wirklich helfen will, muss sich mit politischen Problemen beschäftigen. Es geht um die radikale Änderung der bestehenden Verhältnisse. Unsere Mitverantwortung könnte unter anderem darin bestehen: 

  • Sich Wissen über die wirklichen Probleme aneignen, eine informierte Gruppe innerhalb der Gesellschaft zu bilden. 
  • Bewusstsein wecken über unsere Mitverantwortung am Massenmord, unsere Mitmenschen wachrütteln. 
  • Nachdenken über die Rolle des sozialistischen Lagers aus der Perspektive dieser weltweiten Problematik: Wo haben wir Verbündete? Wo können wir uns einer Macht verbünden, die Ungerechtigkeit einschränken und Ausbeutung beseitigen könnte? Wie müsste „Sozialismus“ funktionieren, damit er diese Aufgabe erfüllen könnte? 
  • Als Gemeinde Mitverantwortung gestalten. Doch in der Kirche kümmern wir uns um die Hungertoten nur, wenn der eigene Betrieb nicht gestört wird. Wir läuten weiter die Glocken und wollen attraktiv sein, wir diskutieren, ob man die Jugendweihe oder die Konfirmation oder auch beides über sich ergehen lässt, wie es mit dem Glauben und dem Atheismus sei usw. usw. Sicher, an all dem ist etwas dran – und doch ist alles so falsch! 

(Anmerkungen der Redaktion: Es folgen Stichworte, die im Manuskript nicht ausgeführt sind )

  • Lenin: Wenn Deutsche den Bahnhof stürmen wollen, dann kaufen sie erst eine Bahnsteigkarte. 
  • Bürger, schont eure Grünflächen! Nicht den Rasen betreten!  
  • Kennzeichen des ordentlichen, gehorsamen, formierten Bürgers. 
  • Junge Leute im Westen haben erkannt: Erst als wir den Rasen betraten und ihn zerstörten, waren wir dazu in der Lage, die Lüge über Vietnam zu zerstören, dass dort die Freiheit verteidigt würde. Erst als sie den von der Ordnungsmacht vorgeschriebenen Weg für ihre Demonstration verließen, entlarvten sie die Freiheit, die ihnen brave Bürger zugestanden hatten, als Narrenfreiheit: Die Polizei knüppelte und sie fand den Beifall der Massen – auch der Christen. 
  • Schweden: verdecktes Altarbild mit Aufschrift: Christus ist nicht hier, er verhungert in Indien; er wird in Vietnam mit Napalm verbrannt. 

3. Die Tagesordnung für das, was wir in der Gemeinde zu besprechen und zu verhandeln haben, wird von der Welt aufgestellt. Im internationalen Gespräch der Christen wird das immer deutlicher. Es wird auch sehr deutlich, dass wir kaum noch daran beteiligt sind, weil wir zu provinziell denken und reden. Man erwartet eigentlich nichts mehr von uns Christen in der DDR, nur noch die Geschichten und Klagen über Schwierigkeiten, die wir haben. Auf die eigentlichen Fragen, tun wir uns schwer zu antworten: 

  • Was tut ihr in Sachen Vietnam? Warum schweigen eure Kirchen? Warum helft ihr nicht uns, den amerikanischen Christen, nein zu sagen gegen diesen Krieg? 
  • Was tut ihr in euren Kirchen und in eurer sozialistischen Gesellschaft gegen den Hunger? 
  • Wir sind voll Misstrauen gegenüber den Kommunisten. Ihr lebt mit ihnen zusammen in einer Gesellschaft und seid trotzdem noch Christen! Was tut ihr für das Zusammenleben und für die Verständigung? Was tut ihr dafür, dass Marxisten und Christen auch anderswo in der Welt miteinander leben können? Was tut ihr für eine Verständigung zwischen Ost und West? 
  • Wir haben kein Interesse an einem wiedervereinigten Deutschland. Wir haben mit einem zu großen Deutschland schlechte Erfahrungen gemacht. Wir möchten Frieden in Europa. Was tut ihr als Christen in der DDR dafür? Hättet ihr nicht eine besondere Aufgabe, für die Annäherung der beiden deutschen Staaten zu arbeiten? Was haltet ihr von der Frage der politischen Anerkennung der DDR? Warum können sich die westdeutschen Politiker mit ihrer Nichtanerkennung unter anderem immer darauf berufen, dass sie im Sinne der Kirchen und Christen in der DDR handelten? 

Eine Bemerkung zum Schluss: Es geht mir nicht darum, in die Ferne zu den großen Problemen zu schweifen und die kleinen, aber doch wichtigen Alltagsfragen zu vergessen oder zu verschweigen. Es geht vielmehr darum, die kleinen Fragen in dem heute dringend notwendigen Zusammenhang zu sehen und zu verstehen.

(Anmerkung der Redaktion: abschließende Stichworte nicht ausgeführt ) Beispiel: Verfassungsdebatte – Mitgliedschaft in Organisationen, Parteien – … Jugendtag Babelsberg, 5. Mai 1968