Dez 291994
 

Was bleibt?

Von Giselher Hickel, Hirschluch 09.-11.12.1994

Dieses Treffen ist ein Abschied vom Ökumenischen Jugenddienst. Wenn auch die Lagerarbeit, die heute im Mittelpunkt stehen soll, nicht ganz aufhören wird ‑ den ÖJD, wie wir ihn kannten, mit seiner vielfältigen ökumenischen und internationalen Arbeit wird es nicht mehr geben. Nach allem, was sich in den letzten Jahren getan hat, grämt mich das „Ade“ nicht so sehr. Ehrlich gesagt, es hätte mich gewundert und auch ein wenig verdrossen, wenn der ÖJD sich so ohne weiteres in die AEJ hätte einpassen lassen. Das sage ich nicht in zwieträchtiger Gesinnung. AEJ und ÖJD waren Partner, waren wie Schwester und Bruder. Sie waren aber nie einander ähnelnde oder gar gleichende Zwillinge. Unsere Zusammenarbeit beruhte auf unserer Verschiedenartigkeit. Wir verstanden uns umso besser, je ungezwungener wir das akzeptierten. Mit manchen Kolleginnen und Kollegen hatten wir ein freundschaftliches Verhältnis. Wir schätzten deren Arbeit und hätten doch niemals mit ihnen tauschen wollen.

Dann also lieber ein Abschied! Es gibt Beerdigungen, da möchte man, zwar mit einer Träne im Auge, Lob- und Danklieder singen, weil man das Gefühl, hat: ‚Es ist gut so!‘ Deshalb lobt man noch lange nicht den Tod oder die Krankheit, die ihn herbeigeführt hat.

Der ÖJD ist ein Kind des ökumenischen Aufbruchs der Nachkriegszeit. Der Name ist nicht Erfindung der Gossner-Mission, aus der der Anstoß kam. Ecumenical Youth Service (EYS), zu Deutsch: Ökumenischer Jugenddienst, ist ein Programm der Jugendabteilung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK). Daran wollte der ÖJD bewusst anknüpfen nach Inhalt und Form, und diese Verwandtschaft hat er stets gepflegt. Die Gründer des ÖRK waren, ähnlich wie die der UNO, von dem Wunsch beseelt, Versöhnung unter den Völkern zu stiften und nach der Einheit der Welt in Frieden und Gerechtigkeit zu streben. EYS sollte ein Instrument dafür in den Händen junger Christen sein.

Ökumenische Jugenddienste gibt es auch in anderen europäischen, afrikanischen und asiatischen Ländern. Soweit ich sehe, hat der Jugenddienst allerdings nirgends eine so zentrale Bedeutung für die kirchliche Jugendarbeit gewonnen wie in der DDR. Hier wurde ihm nicht nur die internationale Arbeit übertragen, sondern er konnte ökumenisches Denken in vielen Bereichen stimulieren. Beispielsweise spielte er bei der Entstehung des Ökumenischen Jugendrates in der DDR eine Schlüsselrolle, wie übrigens auch beim Aufbau des Ökumenischen Jugendrates in Europa.

Der ÖJD in der DDR wäre nicht ohne die zielstrebige und überzeugende Arbeit von Dietrich Gutsch denkbar gewesen. Schade, dass er heute nicht das Resümee ziehen kann. Ich selbst verdanke ihm sehr viel.

Was wollten wir im ÖJD? Als Teil der ökumenischen Bewegung waren wir deren Zielen verpflichtet. Sind wir dem gerecht geworden, was Ökumene bedeutet?

1.

Die ökumenische Bewegung ist zuerst und vor allem eine kirchliche Reformbewegung. Wir wollten die Kirche verändern, von innen heraus. Das machte sich vor allem fest an dem Wunsch, die Aufspaltung der einen Gemeinde Jesu Christi in verschiedene Kirchen zu überwinden.

Dazu waren die Lager ein Instrument, auf Erfahrungen angelegt und praktischer als Seminare und Begegnungen. Sie waren und sind offen für alle Konfessionen. Zwar überwogen Evangelische, aber Katholiken, Baptisten, Methodisten waren engagiert dabei auch unter den Lagerleitern und den gastgebenden Gemeinden.

Wichtiger aber als die Herkunft der einzelnen war etwas anderes: Die Gruppe bildete nicht nur eine Gemeinschaft auf Zeit, sondern auch Gemeinde auf Zeit. Auch wem es nicht betont fromm zuging, es musste doch ein geistlicher Rahmen für das Zusammenleben gefunden werden. Ob Andacht, Tischgebet, Bibelarbeit, Sonntagsgottesdienst ‑ nichts verstand sich von selbst, sondern alles musste bewusst abgelehnt oder gewählt, im letzteren Falle meist selbst gestaltet werden. Neue Lieder und liturgische Formen wurden ausprobiert ‑ manchmal kamen wir uns atemberaubend revolutionär vor, verglichen mit dem, was wir aus der Heimatgemeinde kannten. Gelegentlich verzichteten wir nicht einmal auf das Abendmah1, sozusagen den Prüfstein des Ökumenismus. Und all das so, dass alle an allem teilnehmen konnten, ohne sich selbst zu verleugnen. Das waren Samenkörner für ökumenische Gemeinden, die es leider bis heute in unserem Land nur in wenigen Ausnahmen gibt.

Ist es uns gelungen, die Mauern zwischen den Konfessionen zu Brücken umzubauen? Ich persönlich bin sehr dankbar für die vielen Begegnungen und Impulse aus anderen Kirchen, auch für die Erfahrung, dass Leute aus anderen Konfessionen oder anderen Ländern mir oft viel näher standen als die, die aus meiner eigenen Kirche kamen. Ich habe in Lagern, Konferenzen oder bei Gruppenbesuchen Traditionen erlebt, die mir vorher gänzlich verschlossen waren, z. B. die der Orthodoxie. Vermutlich wüsste jede und jeder von uns über bereichernde ökumenische Erlebnisse zu berichten.

Dennoch, die Trennung ist geblieben. Sie ist womöglich noch schmerzhafter, weil inzwischen noch weniger akzeptabel. Nach wie vor ist uns das gemeinsame Abendmahl mit vielen Christen verboten. Kirchen sprechen bei gesellschaftlichen Herausforderungen nicht mit einer Stimme ‑ heute weniger als zuvor. Bei Ämterverteilungen gibt es neben dem Parteien‑ auch einen Kirchen‑Proporz. Bei den Diskussionen um Kirchensteuer, Religionsunterricht und Militärseelsorge tauchte das Argument auf, dass die EKD gegenüber der katholischen Konkurrenz nicht ins Hintertreffen geraten dürfe. Die Kirchen mit den geringeren Mitgliederzahlen, die sogenannten Freikirchen, kommen in dem Gerangel allerdings selten vor – sie sind kaum ein Machtfaktor.

Nach wie vor lassen wir die Geschichte zwischen uns stehen, die voll ist von immer neuen Reformversuchen. Die Reformen sind in der Regel gescheitert, die Kirchen geblieben. Hass, Verfolgung und eine Menge Blut haben dem Heiligen Geist kaum eine Chance gelassen, die ‚Gemeinschaft der Heiligen‘ sichtbar werden zu lassen.

Die erste Abspaltung der christlichen Gemeinde, die von der jüdischen Gemeinschaft, mündete in die Shoa. Heutige Kriegsparteien, etwa auf dem Balkan, werden mit religiösen und konfessionellen Etiketten versehen. Wo liegen Schuld und Unschuld? Wer trägt die Verantwortung? Hat der konziliare Prozess zur Überwindung der konfessionellen Spaltungen beigetragen oder eher zu deren Verfestigung?

2.

‚Lehre trennt, Praxis eint‘, das ist ein Schlüsselsatz der frühen ökumenischen Bewegung. Er hat natürlich auch bei der Idee der Aufbaulager Pate gestanden. Wo wir zu einer gemeinsamen Praxis kommen, verlieren nicht nur die Unterschiede zwischen den Konfessionen an Bedeutung, sondern auch die zwischen Christen und Nichtchristen, zwischen Kirche und Welt, Gemeinde und Gesellschaft. Das Kirchengebäude, bei deren Renovierung wir halfen, ist eben Kirche im Dorf, nicht nur Gottesdienstraum für die kleine Kirchgemeinde. Die Friedhofsmauer verbindet drinnen und draußen. Der Kindergarten ist nicht nur Getauften offen.

Die ökumenische Bewegung will die Kirchen öffnen für gesellschaftliche Anliegen, will die Grenze zwischen sakralem und profanen Raum durchlässiger machen, will das soziale Engagement der Kirchen, will, dass sie ein Friedensfaktor sei. Ist es uns gelungen, dazu beizutragen?

Bei der Suche nach Projekten für die Lager spielte diese Öffnung zur Gesellschaft hin eine Rolle. Zeitweise war das Nationale Aufbauwerk der DDR Partner für Aufbaulager, auch LPGs und kommunale Einrichtungen. Allerdings gab es Phasen, in denen die Spannungen in den Staat‑Kirche-­Beziehungen solche Nähe nicht zuließen. Umso wichtiger, aber auch umso umstrittener waren unsere Bemühungen, Misstrauen und Feindseligkeiten zwischen uns und den Vertretern von Staat und Partei zu überwinden. Vor Ort war vieles über persönliche Kontakte möglich, z. B. beim Transport von Baumaterial, bei der Mittagsversorgung in der Betriebskantine usw. In den 80er Jahren hatten wir schließlich regelmäßig Projekte, die nicht kirchlich verankert waren – z. B. im Forst, bei einem Umweltamt oder einer Stadtwirtschaft –, waren gleichzeitig aber in Kirchgemeinden untergebracht.

Die Arbeit des ÖJD war immer auch politisch, bewusst und ausdrücklich. Dass wir politische Positionen nicht vermeiden könnten, gehörte zu unserem Ökumeneverständnis. Für mich führte das über manche Umwege zu dem Engagement, „den Sozialismus als eine Gestalt gerechteren Zusammenlebens zu verwirklichen“ (Lehniner Bischofskonvent 1968). Den entscheidenden Anstoß dazu verdanke ich dem ÖJD. Es überzeugte mich, als Dietrich Gutsch uns klarmachte, daß Macht und Ohnmacht in unserem Land nicht so eindeutig verteilt waren, wie es auf den ersten Blick schien. Das wirklich sozialistische Denken befand sich immer in einer Position der Schwäche, egal ob es innerhalb des Staatsapparates oder in der Diskussion an einem Lagerabend zur Sprache kam. Und die Macht andererseits konnte knallhart von einem Landesjugendpfarrer oder Bischof wie von einem Parteisekretär ins Feld geführt werden.

Die Option für den Sozialismus hat uns eine gewisse Nähe zu staatlichen Institutionen eingebracht. Das wieder hatte Misstrauen seitens vieler zur Folge. Allen, denen entsprechende Fragen zu schaffen machen, möchte ich gern sagen: Meines Wissens gab es zu keiner Zeit irgendwelche persönliche Abhängigkeiten zwischen Mitarbeiter/innen des ÖJD und staatlichen Institutionen. Wir haben hart miteinander darum gerungen, den Spielraum für die internationale ökumenische Arbeit – nur um diese ging es – zu erweitern. Unser Hauptpartner war dabei das Staatssekretariat für Kirchenfragen. Gelegentlich fanden wir unter Genossen auch Verbündete, die mit uns innerhalb ihres eigenen Apparates für unsere Anliegen stritten. Ich erinnere mich nicht, dass ich je eine einzige Seite eines Berichtes bei staatlichen Stellen hätte vorlegen müssen, selbst dann nicht, wenn es um Devisen für Auslandsreisen ging – das Heikelste, was es in der DDR überhaupt gab. Alle Anträge auf Ein‑ und Ausreisen wurden u. a. vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) bearbeitet. Mitunter wurden Rückfragen über das Staatssekretariat für Kirchenfragen oder direkt an uns herangetragen. Ich habe einige der für uns zuständigen und uns ständig kontrollierenden Mitarbeiter beim MfS auch persönlich gekannt. Ich hege keinen besonderen Groll gegen sie. Sie haben manches verhindert, anderes zugelassen und wieder anderes offenbar unterstützt. Dass ich – und das trifft sicher auch für die Kollegen vor, nach und neben mir zu – bei den Verhandlungen, mit wem auch immer, Anstand und Fairness habe walten lassen, kann man mir glauben oder es bezweifeln. Eine dritte Möglichkeit sehe ich nicht.

Im Übrigen, mehr als von Institutionen des eigenen Staates waren wir, die Kirchen im Allgemeinen und die kirchliche Jugendarbeit im Besonderen, von Kirchen und Institutionen der BRD abhängig. Dies ist etwas, was mich stets belastet hat und mir bis heute zu schaffen macht.

Schließlich möchte ich zu dem Stichwort DDR‑Vergangenheit noch eine abschließende Bemerkung machen: Ich habe mich in der Vergangenheit, das trifft jedenfalls für meine Zeit im ÖJD zu, für das, was in der DDR passierte, irgendwie mitverantwortlich gefühlt. Auf manches war ich stolz, anderes hat mich geärgert und wütend gemacht, wieder anderes war mir ausgesprochen peinlich – aber es war immer Meines. Darauf bestand ich, selbst wenn man mir, als einem Kirchenmenschen, das besserwisserisch bestreiten wollte. Zu dieser Mitverantwortung stehe ich. Ich bin, in den gängigen Kategorien gesprochen, nicht Opfer, sondern Täter der DDR‑Geschichte. Ich habe Beteiligtsein bewusst angestrebt und kann mich daraus nicht einfach deshalb stehlen, weil das Sozialismus‑Projekt


Links