Apr 062012
 

Die Integration von Behinderten setzt die Beachtung ihrer ganzen Persönlichkeit voraus.

Von Melanie Mühl

Der Sozialstaat vergisst seine Bürger nicht. Er verspricht ihnen, dass sie nicht den Boden unter den Füßen verlieren, selbst dann nicht, wenn ihnen ein Schicksalsschlag widerfährt und sie plötzlich nicht mehr der Mehrheit, sondern einer Minderheit angehören. Jeder Mensch ist ein Teil der Gesellschaft. Eine UN-Konvention regelt genau dieses Recht für behinderte Menschen. Seit 2009 ist sie auch für Deutschland verbindlich. Darin steht, dass die Bundesrepublik verpflichtet ist, „wirksame und geeignete Maßnahmen zu treffen …, um Menschen mit Behinderungen in die Lage zu versetzen, ein Höchstmaß an Unabhängig? keit, umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten sowie die volle Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen und zu bewahren“.

Kommt die Politik ihrer Pflicht tatsächlich nach? Integriert sie auch diejenigen am ausgefransten Rand der Gesellschaft, die durch jedes Aufmerksamkeitsraster fallen, wie zum Beispiel die Taubblinden?

Wer auf deren Leben blickt, muss diese Fragen mit Nein beantworten. Dieses Nein bedeutet, dass die Bundesregierung jeden Tag gegen die UN-Konvention verstößt, ohne dass davon irgendjemand angemessen Kenntnis nehmen würde. Die Umstände, unter denen Taubblinde in diesem Land leben, sind häufig katastrophal. Im Gegensatz zu Blinden oder Gehörlosen haben sie nicht einmal ein eigenes Merkzeichen, das ihre Behinderung im Schwerbehindertenausweis eindeutig vermerkt. Stattdessen stehen dort die Abkürzungen Bl für blind und Gl für gehörlos. Der Mensch wird einfach in seine einzelnen Behinderungen zerlegt. Eine doppelte Sinnesbehinderung ist in unserem System anscheinend nicht vorgesehen. Die Idee dahinter ist klar: Eins plus eins ergibt zwei. In diesem Fall geht die Rechnung allerdings nicht auf. Es ist merkwürdig, dass in einem Land, in dem von A bis Z alles ordentlich durchkategorisiert wird, damit jeder den Überblick behält, ausgerechnet Taubblinde kein Merkzeichen erhalten. Das ist keine Kleinigkeit, denn dadurch tauchen die Betroffenen gar nicht erst in unserer Begriffswelt auf.

Im Behördenalltag führt das dazu, dass Taubblinde von ihrer Krankenkasse Lichtklingeln genehmigt bekommen, weil sie ja taub sind. Aber was soll ein taubblinder Mensch mit einer Lichtklingel? Was jeder Taubblinde neben einer persönlichen Assistenz dringend benötigt, sind zum Beispiel Hindernismelder mit Vibration, Notfall-Handys mit Braille-Zeile und spezielle Lesesysteme. Damit den Betroffenen der Spießrutenlauf durch die Behörden in Zukunft erspart bleibt, muss ein Tbl-Zeichen her. Es ist überfällig.

Das Europäische Parlament hat bereits 2004 Taubblindheit als Behinderung eigener Art in aller Form anerkannt. Finnland und Norwegen gewähren persönliche Assistenz und Dolmetscherleistungen. Und hierzulande? Offenbar lohnt es sich in einer Gesellschaft, in der alles und jeder auf Optimierung getrimmt wird, nicht, dieser Randgruppe ein würdiges Leben zu sichern. Schätzungen des „Gemeinsamen Fachausschusses hörsehbehindertert/taubblind“ zufolge leben in Deutschland sechstausend Taubblinde. Wie viele müssten es sein, damit sich etwas ändert?

Seit der Kostendruck auf das Gesundheitswesen wächst und wächst, ist es für Minderheiten beunruhigend eng geworden, je kleiner sie sind, umso enger. Fest steht, dass sich die Situation weiter zuspitzen wird. Beispiele dafür sind Menschen mit Gendefekten wie Chorea Huntington, Turner-Syndrom oder Trisomie 21. Frauenärzte sind verpflichtet, Patientinnen von Mitte dreißig an auf die vorgeburtliche Diagnostik und die möglichen Schlussfolgerungen hinzuweisen. Die Botschaft des Staates und der Gesellschaft lautet: Niemand muss heute ein behindertes Kind zur Welt bringen, das unsere Gemeinschaft finanziell belastet. Inzwischen werden mehr als neunzig Prozent der Ungeborenen, bei denen Trisomie 21 diagnostiziert worden ist, abgetrieben. Die Angst der Mütter, der Eltern, der Gesellschaft insgesamt, das System könnte für die Kinder mit langer Lebenserwartung keinen Platz haben, muss enorm sein.

Um die Lebenswirklichkeit Taubblinder zu verbessern, hat die Stiftung taubblind leben Unterschriften für die Einführung eines Merkzeichens gesammelt. Nach einigem Hin und Her hat sich das Bundesministerium für Arbeit und Soziales dazu durchgerungen, Ende März die bisher 14 000 Unterschriften im Ministerium entgegenzunehmen. Auch der Paritätische Wohlfahrtsverband wird dabei sein. Bei der Übergabe darf die Presse nicht dabei sein. Sie ist erst bei einer gemeinsamen Diskussionsrunde zugelassen. Will das Ministerium die Taubblindenproblematik unauffällig über die Bühne bringen, um erkannte Versäumnisse verschämt nachzuholen? Effizienter aber wäre es, unter Mitwirkung der Medien das gesellschaftliche Verständnis und die private wie die staatliche Hilfe für die Taubblinden zu mobilisieren.

Wie es um die Moral und die Sitten einer Gesellschaft bestellt ist, bemisst sich daran, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht. Im Fall taubblinder Menschen kann jetzt jeder sein eigenes Urteil fällen.

F.A.Z. vom 21.03.2012