Nov 282012
 

1. Juli 2013 – 150 Jahre Befreiung von Sklaverei in Surinam

Von Christoph Reichel, Evangelische Brüder-Unität – Herrenhuter Gemeine

»Geht es eigentlich um die Frage, wie wir wahrhaftig freie Brüder und Schwestern sein können? Ich denke, dass wir schon lange auf der Suche nach der Antwort auf diese Frage sind. Wir versuchen, einander in die Augen zu sehen und die Dinge auszusprechen. Aber was meines Erachtens noch immer in der Beziehung eine Rolle spielt, ist die fehlende Anerkennung des Unrechts der Sklaverei. Solange die Anerkennung nicht stattfindet, wird für mich selbst immer ein gewisses Spannungsfeld in der Beziehung zu meinen weißen Brüdern und Schwestern bestehen bleiben. Ich weiß aus der Erfahrung in meiner Umgebung, dass dieses Gefühl sehr lebendig ist bei schwarzen Menschen. Der schwarze Mann vertraut dem weißen Mann nie wirklich ganz. Nicht, weil es die Sklaverei gegeben hat, sondern eher, weil die Sklaverei nicht wirklich anerkannt wird. Wenn über den Zweiten Weltkrieg, über Niederländisch-Indien, über die Molukker frei gesprochen werden kann, warum nicht über die Vergangenheit der Sklaverei? Dieses Gefühl, das wir als Surinamer haben, ist schon seit Generationen da. Es ist Jahrhunderte alt und ein fast vertrautes, selbstverständliches Gefühl geworden, das von Generation zu Generation übertragen wird.«

Mit diesen Worten beginnt eines der Interviews mit Geschwistern surinamischer Herkunft, die in einem kleinen Buch erschienen sind. Die Worte fassen zusammen, um was es bei allen Aktivitäten geht, die die Brüdergemeine in den Niederlanden im Zusammenhang mit der Feier von 150 Jahren Befreiung von Sklaverei im Jahr 2013 organisiert: ein ehrliches und offenes Gespräch über eine Geschichte, die bis heute für viele Menschen schmerzhaft ist; Anerkennung dieses Erbes, damit Vertrauen wachsen kann.

Wenn das Thema Sklaverei zur Sprache kommt, winken tatsächlich viele Niederländer ab: »Das ist doch schon so lange her, warum muss man das immer wieder aus der Klamottenkiste der Geschichte holen?« Vielleicht hat dieses Abwinken damit zu tun, dass sogleich die Schuldfrage am Horizont auftaucht, die man möglichst vermeiden möchte. Wie aktuell das Thema aber für die Nachfahren der Sklaven ist, wurde mir bei der Tagung zum Konziliaren Prozess vor ein paar Jahren deutlich, wo eine Schwester aus Amsterdam aufstand und sagte:

»Meine Großmutter hat mir schon früh die Geschichten ihrer Großmutter erzählt, die als Sklavin geboren wurde. Und ich spüre heute noch ihren Schmerz in mir.«

Das Thema Sklaverei ist jedoch keineswegs nur ein Thema von Surinamern und Niederländern. Die Brüdergemeine in Europa hat allen Anlass, sich ihm erneut zu stellen. Denn der eingangs zitierte Wunsch nach Anerkennung der Geschichte der Sklaverei bezieht sich auch auf die Brüdergemeine. Ich bin davon überzeugt, dass die Nachwirkungen der Geschichte der Sklaverei es uns auch heute noch schwer machen, uns als eine Kirche, eine gemeinsame Provinz der Brüder-Unität zu verstehen – gerade weil sie oft nicht besprochen werden. Sicher gibt es auch andere Gründe für unsere Verständigungsschwierigkeiten. Aber wir sollten das Gedenken 2013 zum Anlass nehmen, die Rolle der Brüdergemeine in der kolonialen Zeit noch einmal anzusehen.

Als August Gottlieb Spangenberg 1735 durch die Direktoren der »Sociëteit van Suriname« in Amsterdam nach der Haltung der Brüdergemeine zur Sklaverei gefragt wurde, bevor er die Zustimmung zur Mission in der Kolonie bekam, antwortete er nach seinem Bericht:

»Da wurde ich nun gefragt, was sie wegen der Sclaven sentirten? Ich antwortete, wie sie glauben, man müsse sie suchen zu Christo zu bringen, sie aber alsdann ermahnen, doppelte Treu und Fleiß zu beweisen, und deshalb keine leibliche Freiheit zu verlangen, wohl aber mit Dank anzunehmen, wenn sie ihnen ultro gegeben würde. Hiermit waren sie zufrieden.«

Natürlich war ein Stück Diplomatie bei dieser Aussage, aber über ihr wie über der ganzen Geschichte der Brüdermission in Surinam liegt doch der Schatten einer großen Ambivalenz.

Sicher, schon Jahrzehnte, bevor den schwarzen Sklaven 1828 von der Obrigkeit eine menschliche Persönlichkeit zugestanden wurde, begegneten ihnen die Missionare als Brüder und Schwestern und sprachen ihnen somit eine menschliche Würde zu. Die Missionare waren die ersten, die Sranang Tongo, dem »Negerenglisch«, den Rang einer Kirchensprache gaben, und die den Sklaven Lesen und Schreiben beibrachten. Andererseits verhinderte aber eine grenzenlose Loyalität zur Obrigkeit, verbunden mit einer rein geistlich verstandenen Freiheit als Befreiung von Sünden, den offenen Widerspruch gegen das strukturelle Unrecht. »Dank für die ultro [also im Jenseits?] gegebene Freiheit« – ja, aber wie stand es mit der Unfreiheit, mit der Brutalität der körperlichen Züchtigung hier und jetzt? Wurde nicht viel zu oft geduldiges Ertragen gepredigt? Kein Wunder, dass bis heute das Wort »sakafasi« (Demut) einen schlechten Beigeschmack für Surinamer hat. Auch als der Druck der englischen Vorkämpfer für die Abschaffung der Sklaverei wuchs und sie sich mit Beschwerden an die Missionsbehörde Herrnhut wandten, rechtfertigten die Brüdermissionare ihren eigenen Sklavenbesitz – noch lange nach der Abschaffung der Sklaverei in den britischen Kolonien.

Seit dem 1. Juli 1863 steht der Bibeltext aus Johannes 8,36 im Zentrum der Dankgottesdienste für die Befreiung – die Missionare hatten den Text gewählt:

»Wenn nun der Sohn euch frei macht, werdet ihr wirklich frei sein.«

Ein guter Text, in dem anklingt, dass zur Freiheit mehr gehört als ein paar Schuhe (die den Slaven verwehrt waren) oder eine formalrechtliche Freiheit. Das wurde im Schicksal der sogenannten Kontraktarbeiter aus Indonesien und Indien überdeutlich, die später zu ähnlich elenden Bedingungen, aber als »Freie« die Arbeit der freigelassenen Sklaven übernahmen.

Wahre Freiheit beinhaltet auch die Befreiung vom Selbstbild des Sklaven, den Schritt in die innere Unabhängigkeit. Es stimmt, dass die wahre Befreiung immer vor uns liegt. Aber haben die Missionare sich getraut, die Sklaven als Subjekte ihrer eigenen Geschichte anzuerkennen? Es scheint mir, als zeige sich auch an diesem Befreiungstag vor allem die Sorge, dass die Freigelassenen nicht recht mit der erlangten Freiheit umgehen könnten, dass sie noch längst nicht ausreichend erzogen und kultiviert seien für das Leben nach der Sklaverei. Dennoch: Johannes 8,36 macht klar, dass es beim Gedenken der Sklaverei letztlich um die Frage geht, wie frei wir heute sind, einander Brüder und Schwestern zu sein, als Nachfahren von Sklaven, von Missionaren. Es geht um unseren Mut zur Eindeutigkeit und Klarheit, um unser Verständnis des Evangeliums und seiner Freiheit. Aber wir können uns diesen heutigen Fragen nur widmen, wenn wir das Vergangene genau ansehen und bei ihm verweilen.

Es ist sicher richtig, wenn sich Stimmen melden, die sagen, man könne doch bei einem solchen Gedenken nicht nur über Vergangenes reden; das Vergangene müsse Ausgangspunkt sein, um heutige Formen der Ausbeutung und des Menschenhandels in den Blick zu nehmen. Aber wir sollten aufpassen, dass wir nicht die Geschichte der surinamischen Geschwister als Vehikel für unsere eigene Agenda missbrauchen. Sonst wiederholen wir, was über Generationen geschehen ist.

Im niederländischen Kirchenrat ist eine Initiative entstanden, dass Gemeinden der niederländischen Kirchen sich mit dem Thema Sklaverei auseinandersetzen und in einem Brief, einem Text oder irgendeinem anderen Dokument einen Beitrag zum Gottesdienst am 1. Juli 2013 liefern, in dem sie ausdrücken, was diese Geschichte mit ihnen macht und was sie den surinamischen Geschwistern dazu sagen möchten. Vielleicht ist das eine Initiative, die auch in der Brüdergemeine aufgegriffen werden könnte?

Es wäre schön, und nicht nur schön, sondern wichtig, dass wir alle 2013 zum Anlass nehmen, uns mit der Geschichte der Sklaverei auseinanderzusetzen. Es liegt die Chance darin, dass wir einander neu begegnen können und unbekannte Seiten voneinander entdecken. Vielleicht kann die Begegnung uns einen Schritt auf dem Weg zu echter Geschwisterschaft über die Grenzen weiterbringen.

Quelle: http://www.ebu.de/ketikoti/brief-christoph-reichel/

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