Sep 192013
 

Person und Werk

Von Georges Casalis

Georges Casalis wurde 1917 in Paris geboren. 1940 wurde er für die unbesetzte Zone in Südrankreich Generalsekretär der Christlichen Studentenbewegung. Nach seiner aktiven Teilnahme an der französischen Widerstandsbewegung wird er 1945 Militärpfarrer und Experte für evangelisch-kirchliche Angelegenheiten bei der französischen Militärregierung in Berlin. 1950 kehrt er nach Frankreich zurück, promoviert an der Theologischen Fakultät in Straßburg und ist dann Pfarrer in Straßburg.

Stimme Verlag, Darmstadt 1960, Auszüge aus den Seiten 28 – 51

Inhalt


1933

In den Kirchen werden die Hakenkreuzfahnen entfaltet, „Deutschland, Deutschland über alles“ und das „Horst-Wessel-Lied“ ertönen neben Luthers „Ein feste Burg ist unser Gott“. Bei den Kirchenwahlen im Juli 1933 ernten die von Hitler offiziell unterstützten Listen der „Deutschen Christen“ mehr als 75 Prozent aller Stimmen.

In diese Lage hinein werfen Barth und sein Freund Thurneysen im Juli 1933 eine neue Zeitschrift: „Theologische Existenz heute“. Der Titel klingt wie ein Trompetenstoß, ein Kampfpanier wird aufgerichtet. Die erste, ursprünglich als Einzelschrift gedachte Nummer ist eine kräftige Angriffs- und Anklagerede gegen die „Deutschen Christen“, wie man sie sich heftiger nicht denken kann. In einem Monat werden 17.000 Exemplare verkauft. Folgende Auszüge mögen in größter Kürze beweisen, dass dieses Manifest für die kirchliche Existenz des 20. Jahrhunderts ebenso lebenswichtig ist, wie es die 95 Thesen Luthers für die Kirche des 16. Jahrhunderts waren.

Wir als Prediger und Lehrer der Kirche insbesondere sind uns in Furcht, aber auch in Freude darüber einig, dass wir berufen sind, durch unsere Predigt und Lehre dem Worte Gottes in der Kirche und in der Welt zu dienen, dass wir mit der Erfüllung dieser Berufung nicht nur selbst stehen und fallen, sondern auch schlechterdings alles, was uns in dieser Welt wichtig, lieb und groß sein mag, stehen und fallen sehen, dass uns also keine Sorge dringlicher und keine Hoffnung bewegender sein kann als die Sorge und Hoffnung unseres Dienstes, kein Freund lieber als der, der uns hilft in diesem Dienst, und kein Feind verhaßter als der, der uns in diesem Dienst hindern will… Darüber sind wir uns einig, oder wir sind nicht Prediger und Lehrer der Kirche …

Unsere Bindung an das Wort Gottes und die Geltung unserer besonderen Berufung zum Dienst am Wort Gottes kann uns heute verloren gehen… Denn das ist die kräftige, in allen möglichen Gestalten auftretende Versuchung dieser Zeit: dass wir über der Macht anderer Ansprüche die Intensität und Exklusivität des Anspruchs des göttlichen Wortes als solche nicht mehr und damit dieses Wort sofort überhaupt nicht mehr verstehen, dass wir in der Ängstlichkeit vor allerhand Gefahren der Gewalt des Wortes Gottes nicht mehr so ganz trauen, sondern ihm mit allerhand Veranstaltungen zu Hilfe kommen zu müssen meinen und damit unser Vertrauen auf seinen Sieg ganz und gar wegwerfen, dass wir unter dem stürmischen Eindruck gewisser „Mächte, Fürstentümer und Gewalten“ Gott noch anderswo suchen als in seinem Wort und eben damit solche sind, die Gott gar nicht suchen … Und dann ist es an der Zeit, dies zu sagen: dass wir jetzt Mann für Mann in der Kirche, wie sie uns geboren hat durch das Wort Gottes, und in dem unvergleichlichen Raum unserer Berufung bleiben oder in die Kirche und in diesen Raum unserer Berufung zurückkehren müssen — unter allen Umständen, unter Hintanstellung aller anderen Rücksichten und Anliegen, um jeden Preis…

Wo es begriffen ist, dass Jesus Christus, und zwar er allein, Führer ist, da ist theologische Existenz… Wo keine theologische Existenz ist, wo man nach dem kirchlichen Führer ruft, statt Führer zu sein in seinem befohlenen Dienste, da ist alles Rufen nach dem Führer so vergeblich wie das Schreien der Baalspfaffen: „Baal, erhöre uns!“

Damit hat der Widerstand seine Stimme, seinen Ausdruck, seinen Mann gefunden. Nichts mehr – weder Tod noch Gefängnis – kann jetzt den von dieser Gewissheit erfüllten Männern, Kirchenräten oder Gemeinden Einhalt gebieten…

Im Jahre 1934 organisiert und gliedert sich die Bekennende Kirche. Es ist die Zeit, in der Niemöller in ganz Deutschland keinen genügend großen Saal für die Zahl seiner Zuhörer findet; nicht einmal die Westfalenhalle in Dortmund (25.000 Plätze) genügt. Er muss seinen Vortrag für alle diejenigen, die in dem riesigen Raum keinen Platz gefunden haben, nochmals halten. Zu dieser Zeit definiert die Bekennende Kirche auf Synoden und Pfarrerzusammenkünften auch den Inhalt des christlichen Glaubens, und zwar polemisch, im Blick auf die Irrlehren der „Deutschen Christen“ und den unmenschlichen Rassenhass, die zur offiziellen Ideologie des neuen Staates geworden sind.

Mehr denn je ist Barth der Mann der gegenwärtigen Lage, seine Freundschaft mit Niemöller wird immer enger, und die Bekennende Kirche wird von diesem ungewöhnlichen Zweigespann angespornt, das aus einem schweizerischen Demokraten, einem in seine Studien vertieften Intellektuellen im edelsten Sinne, einerseits und andrerseits aus einem von Natur kämpferischen U-Boot-Kommandanten, einem Mann der Intuition und der Tat, besteht.


Barmen

Am 31. Mai 1934 wird in Barmen (Wuppertal) ein entscheidendes Dokument verfasst, das unter dem Titel Die sechs Sätze von Barmen – „Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der DEK“ in die Kirchengeschichte eingeht. Es tritt damit in die Reihe der Bekenntnisschriften, die von jeher den kirchlichen Glauben im Angesicht von Verfolgung und Irrlehren bezeugen. Barth ist einer der direkten Urheber des Textes, er hat nach der Mitteilung eines seiner damaligen Freunde „in wenigen Stunden den Grundriss der sechs Barmener Thesen niedergeschrieben“. (Er hat auf ein Exemplar dieses Artikels von Hand hinzugefügt: „während Asmussen und Breit ein Mittagsschläfchen von zwei Stunden celebrierten“!)

Der Inhalt des Barmer Textes lautet folgendermaßen:

Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich (Joh. 14, 6).

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und ein Mörder. Ich bin die Tür; so jemand durch mich eingeht, der wird selig werden (Joh. 10,1.9).

Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.

Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“

In den fünf anderen Artikeln wird hervorgehoben:

  • Die Zugehörigkeit des ganzen Lebens des Christen an seinen Herrn, womit jeglicher geistiger Dualismus verworfen wird.
  • Die Freiheit der Kirche, die den Geboten ihres Herrn allein gehorcht, allen Instanzen und Lehren dieser Welt gegenüber.
  • Das allgemeine Priestertum, die völlige Gleichheit aller Christen vor Gott und die Verwerfung des auf die Kirche übertragenen Führerprinzips.
  • Die über alle Staatsgesetze erhabene Unabhängigkeit des Wortes Gottes.
  • Die Verantwortung, die die Kirche dem Volk gegenüber trägt, die Unabhängigkeit ihrer Botschaft in bezug auf Ideologien und Propaganda.

Die Schrift schließt mit einer an alle Christen in Deutschland gerichteten Aufforderung, sich der Bekennenden Kirche anzuschließen…


Briefe an die Kirchen

Vor der Krise vom September 1938 und der Münchner Konferenz werden zunächst die Tschechen in der Person von Professor Hromadka zum Widerstand aufgefordert, dann werden im September 1939 und im Oktober 1940 die französischen Protestanten gewarnt und ermahnt; 1941 empfangen die Engländer einen ähnlichen Brief, die Norweger im April 1942, die Holländer im Juli und die Amerikaner im Oktober desselben Jahres. Alle diese Schreiben sind von prophetischer Weisheit und Klarsieht erfüllt und erscheinen in einem Sammelband im Jahre 1944 unter dem Titel „Une voix suisse“. Barths überragende Größe tritt darin neu zutage: Er erweist sich als der sichere Meister, auf dessen nie versagendes Urteil in der ganzen Welt gewartet wird wie auf einen Wegweiser, der den nötigen Weitblick, den Mut zum Widerstand oder ganz einfach zum Weiterleben verschafft. Wir finden keine Spur von Exaltierung in diesen Briefen, sondern einen gesunden, nüchternen Menschenverstand, einen selbstverständlich scheinenden Sinn für Realität, hie und da einen Anflug von Humor und dann einen ganz ruhigen, aber so sicheren und festen Glauben, dass er in seiner Anschaulichkeit geradezu greifbar zu sein scheint. Eine aus diesen Briefen hervorstechende Eigenschaft ist auch der Ton, in dem sie gehalten sind: keine strengen, beißenden oder weltfernen Urteile, sondern Barmherzigkeit ist ihr Grundton; im Namen der Liebe Christi, der den Tod überwunden hat, schreibt Barth wie ein Vater an seine Kinder, er ermahnt und tröstet sie, er stärkt sie, fordert sie zu Mut, Geduld und Klarheit, ja zum Martyrium auf, wenn es sein muss. Und durch jeden Satz hindurch schimmert das Reich Gottes wie ein Fluchtpunkt, auf den die ganze Situation hinausläuft, das Reich, in dem die Liebe des Gottes, der den Tod besiegt hat, ewig herrschen wird. Es ist keineswegs verwunderlich, dass diese Texte in der ganzen Welt so eifrig gelesen und besprochen und als verbotene Literatur im verborgenen herumgeboten worden sind. Deshalb betrachtet auch die Polizei des damaligen Gewaltsystems Barths Schriften als eines der Literaturerzeugnisse, dessen scharfer Gegensatz zum Nationalsozialismus am offenkundigsten hervortritt. Der in Freiheit lebende Schweizer Barth und sein Freund Niemöller im Konzentrationslager sind zu jener Zeit die beiden Erzfeinde des Regimes.


Anwalt der besiegten Deutschen

Nun aber veröffentlicht Barth im Jahre 1945 mitten im Begeisterungstaumel, der das befreite Europa erfasst, zwei kleine Schriften: „Die Deutschen und wir“ und „Wie können die Deutschen gesund werden?“. Mit jener Kühnheit, die allein der Barmherzigkeit entspringt, schreibt Barth:

Ich wollte, dass auch andere sich an der Aufgabe beteiligen möchten, den Deutschen in der heute gebotenen Richtung Mut zu machen.

Was soll jetzt diese Sprache plötzlich? Wie ist es zu verstehen, dass der Verfasser des Briefes an Hromadka jetzt so redet? Wir ermessen hier den Abstand, der einen politischen Freiheitskämpfer von einem Propheten trennt: Wenn Barth während der ganzen Zeit der Hitlerherrschaft eine so deutliche Sprache geführt hat, so hat er das nicht als Schweizer Demokrat getan, sondern in erster Linie als Theologe der unbeschränkten Herrschaft Gottes. Barths ganzes Werk will der Verkündigung dieses einzigen und unsichtbaren Gottes dienen; der nationalsozialistische Götzendienst aber stellte eine Herausforderung an diesen Herrn dar, eine Herausforderung, die Barth nicht übersehen konnte. Zwölf Jahre lang rief er Opfern und Helfershelfern des Hitlerreichs zu, dass man Gottes nicht spotte und dass das Gericht über die Regierungsgewalt hereinbrechen werde, deren radikaler Antisemitismus die antichristliche Grundhaltung zur Genüge offenbar werden ließ. Und nun kommt der Zusammenbruch Deutschlands und seiner Verbündeten, ein totaler und blutiger Zusammenbruch, in dem Barth und die Bekennende Kirche unter Furcht und Zittern den Anbruch des Gerichts erkennen können, das sie angekündigt hatten. In der Botschaft der alttestamentlichen Propheten vom Untergang Babylons lesen sie die unerhört aktuelle Beschreibung ihrer Gegenwart: Von Bomben zerschlagene deutsche Städte, Auflösung jeglicher politischer und sozialer Struktur, Aufteilung Großdeutschlands in vier Besatzungszonen, wo kein Mensch mehr im Namen des deutschen Volkes oder der deutschen Kirche redet. In dieser Lage ergreift Barth jetzt das Wort, um in großer Eindringlichkeit zu wiederholen, was Roosevelt und Churchill in den dunkelsten Stunden des Krieges zu sagen verstanden hatten, was aber im Siegesrausch und angesichts der in den Konzentrationslagern entdeckten Greuel in Vergessenheit zu geraten drohte, nämlich: nicht gegen das deutsche Volk, sondern nur gegen die Hitlerische Regierungsgewalt ist dieser Kampf geführt worden. Der Sieg ist jetzt errungen, diejenigen aber, die, obwohl an Hitlers Taten mitschuldig, doch zugleich auch seine ersten Opfer gewesen sind, die Deutschen nämlich, dürfen jetzt nicht vernichtet werden. Die Stunde des Triumphs und der Befreiung hat geschlagen, in dieser Stunde aber soll die Zukunft Deutschlands ein Hauptanliegen der Alliierten sein. Noch einmal: hier redet kein politischer Freiheitskämpfer, sondern ein Prophet, wenn man dieses Wort im alttestamentlichen Sinne versteht. Ein Prophet ist eben kein in die Zukunft blickender Wahrsager, sondern viel eher ein Mensch, dessen Hauptanliegen zu allen Zeiten in der Verkündigung des Wortes Gottes des Allmächtigen an seine Zeitgenossen besteht. Dieses Wort aber steht nie im Einklang mit Propaganda und nationalen Schlagwörtern; es heult nicht mit den Wölfen, noch freut es sich über den Tod des Sünders. Es erschließt im Gegenteil immer eine von der menschlichen Perspektive abweichende Sicht. Die Perspektive des Wortes Gottes führt senkrecht zu dem, der im stillen das Gesicht der Völker prägt und die Geschichte der Nationen leitet. Der allmächtige Gott aber, der den Gewalttätigen widersteht, ist auch der Gott der Gnade, der die vom Gericht Zerschlagenen aufrichtet und einer neuen Zukunft entgegenführt. Darum stellt sich für Barth 1945 folgende Frage:

Wie können die Deutschen gesund werden?

Diese scheinbare Umkehrung seiner eigenen Position verbirgt eine tiefe und zwingende Logik; ihre Begründung und Rechtfertigung liegt in der zentralen Dialektik der absoluten Souveränität Gottes, dessen Herrlichkeit und freier Entschluss immer in der Rettung seiner Feinde offenbar wird. Nie verneint oder verwirft sein Gericht endgültig, es spendet immer neues Leben, öffnet den Weg in die Zukunft und wird zum Ausgangspunkt einer neuen Welt.

In diesen beiden Schriften vertritt Barth die Interessen der Deutschen mit bewundernswerter Wärme, was aber einen weitsichtigen Realismus nicht ausschließt:

Lüge, Unfreiheit und Brutalität und auch große, gen Himmel schreiende Ausbrüche solcher Unmenschlichkeit hat es in den Kriegsund Friedenszeiten immer und überall gegeben. Wir wollen gewiss nicht vergessen, dass unsere eigenen, sonst mit Recht viel gerühmten Vorfahren gerade in ihrer kriegerischen Glanzzeit alles andere als Engel gewesen sind. Das heutige Deutschland aber — das unterscheidet es auch vom revolutionären Russland — hat die Unmenschlichkeit zum Prinzip und zur Methode erhoben. Nationalsozialismus ist nicht nur verbunden, sondern identisch mit Unmenschlichkeit. Alle theoretischen Einwände, die man früher in dieser Richtung gegen seine Gedanken und Lehre erheben musste, sind längst überholt durch die Praxis, in der er sich in einer inzwischen immer zunehmenden Eindeutigkeit selbst dargestellt und (man darf wohl so sagen) selbst gerichtet hat…

Wir möchten und müssten wissen, ob es wahr ist, was die heutigen Wortführer des deutschen Volkes und gleichzeitig seine bittersten Gegner behaupten: dass dieses Volk in seiner überwiegenden Mehrzahl eben das gewollt, ausdrücklich und stillschweigend gutgeheißen habe, in seiner Gesinnung eben dem entspreche, was unter seinem Namen seit zwölf Jahren geschehen ist und noch geschieht, oder ob es umgekehrt wahr ist, was das „Freie Deutschland“ des Generals von Seydlitz von Moskau aus oder sonst uns versichert: dass dieses Volk in seiner überwiegenden Mehrheit selber nur das erste und beklagenswerteste Opfer jener Maschine und niemals für die heute das Bild beherrschenden deutschen Taten haftbar zu machen sei? Welche Version ist die richtige? Oder gilt eine dritte, nach der der deutsche Mensch in ganz besonderer Weise ein Wesen mit zwei ganz verschiedenen Seelen wäre, so dass man in jedem Deutschen zugleich etwas von Friedrich Schiller und Matthias Claudius, aber auch etwas von Joseph Goebbels und von Heinrich Himmler, etwas vom Geist von Weimar, aber auch etwas vom Geist von Potsdam zu suchen hätte? Aber es scheint ja darüber hinaus — von nicht ganz wenig Deutschen vertreten — auch noch so etwas wie einen Geist von Oradour und Auschwitz zu geben. Welches ist nun der wahre deutsche Geist? …

Es gibt im Alten Testament einen Text, den man in dem, was jetzt über Deutschland geht und gehen wird, fast wortwörtlich wieder zu erkennen meint: das 14. Kapitel im Propheten Jesaja, wo über den Sturz des Königs von Babel ein Lied angestimmt wird, in dessen stärkster Stelle die berühmten Worte ertönen: „Wie bist du vom Himmel gefallen, du strahlender Morgenstern! Wie bist du zu Boden geschmettert, du Besieger der Völker! Du hattest bei dir gesprochen: Zum Himmel empor will ich steigen, hoch über den Sternen Gottes aufrichten meinen Sitz, will thronen auf dem Götterberg im äußersten Norden! Ich will über Wolkenhöhen emporsteigen, dem Höchsten mich gleichstellen! Doch ins Totenreich bist du hinabgestürzt, in der Grube tiefsten Grund.“ Ein Triumphlied? So heißt es leider in unseren deutschen Bibelausgaben. Ja, da ist freilich kein Mitleid, da ist freilich Triumph, da ist aber der Triumph nun eigentlich doch schon zugedeckt durch etwas ganz anderes, nämlich durch eine erschütterte Teilnahme an dem beschriebenen Geschehen, durch eine erschütterte Ehrfurcht, die nun doch auch dem durch dieses Geschehen Betroffenen, dem aus so großer Höhe so tief Gestürzten zugute kommt.

Und das eben ist die Verfassung, in der wir dem Zustand, in dem wir die Deutschen wieder finden werden, entgegensehen sollten: in Erschütterung, in Teilnahme, in Ehrfurcht. Und das gerade dann, wenn wir der Erkenntnis nicht ausweichen können, dass alles notwendig und mit Recht so kommen musste! Gerade dann, wenn wir unmöglich wünschen könnten, dass dieser Krieg ein anderes Ende als dieses haben möchte! Wir würden uns selbst verurteilen, wenn wir uns, da nun wirklich vor unseren eigenen Augen alles so kommt, wie es kommen musste, der Erschütterung, der Teilnahme, der Ehrfurcht entziehen konnten.

Wie können die Deutschen gesund werden? Die Antworten, die ich gegeben habe, zielen alle auf einen und denselben Punkt hin. Es wird für die Gesundung der Deutschen alles darauf ankommen, dass unter den vielen und verschiedenen menschlichen Denkweisen – auf seilen der Alliierten ebenso wie auf seilen der Deutschen – eine Gesinnung Platz und Geltung habe, die ich abschließend nennen möchte: die Gesinnung eines christlichen Realismus.

Gegenseitige Vergeltungsaktionen und sich widersprechende Selbstrechtfertigungsversuche sind letztlich hinfällig, das Wesentliche besteht 1945 im Wiederaufbau einer auf den Menschen zugeschnittenen Welt, offen für Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Fortschritt. Allem aber, was sich einer solchen allein wahren Zukunftsmöglichkeit in den Weg stellt, muss ausgewichen werden. Es ist gemeinsame Pflicht und Aufgabe, sich jeglicher negativen Handlung oder Tat zu widersetzen, um nur danach zu trachten, was dem wahren Aufbau dient. Alle Menschen guten Willens, ob Christen oder nicht, werden dazu aufgefordert.

Es ist keineswegs zu verwundern, dass diese Stellungnahme in der ganzen Welt Aufsehen erregt hat. Das prophetische Wort hat es an sich, immer ganz unerwartet und deshalb beunruhigend zu wirken. Barths Ruf stößt durchaus nicht auf Einstimmigkeit: Die Chauvinisten aller Länder, die starren Nationalisten im Westen, vor allem die Franzosen, die Deutschland endgültig vernichten wollen, dann die russischen Nationalisten im Osten, die sein Verschwinden als einheitlich unabhängigen Staat wünschen, und schließlich die deutschen Nationalisten selber, die den verlorenen Krieg bloß als ein unglückliches Ereignis betrachten und für die die Schuld Hitlers nur in seiner Niederlage besteht – diese alle widersetzen sich Barths Aufforderung. In allen Ländern aber finden sich Menschen, auch und gerade dem Konzentrationslager Entronnene, die Barths Worte als vernunftgemäß, sinnvoll und aufbauend begrüßen. Leider zögern jedoch die internationalen Politiker nicht, das besiegte Deutschland nur als Werkzeug zu benützen, aus seiner Aufteilung eine Waffe zu schmieden, seine natürlichen und industriellen Reichtümer zu Rüstkammern und seine Bewohner zu Arbeitermassen zu machen. Sie lassen dabei völlig außer acht, dass sie als Sieger Deutschland gegenüber eine Verantwortung auf sich geladen haben, die an Größe nur der ihm auferlegten Kapitulation gleichkommt. Diejenigen also, die Barth als heilbringende Ärzte ans Bett des kranken Deutschlands ruft, sind nur um ihre eigenen Interessen besorgt. Sie verhelfen in ihrer Zone, jeder auf seine Weise, „ihrem“ Deutschland zu neuem Gedeihen. Sie denken dabei in erster Linie an sich selbst, und fünfzehn Jahre nach dem Sieg über das Hitlerreich steht die deutsche Frage immer noch wie eine klaffende, am Weltfrieden fressende Wunde offen. Die Sieger von gestern haben das besiegte Deutschland weder zu heilen verstanden noch zu heilen gewünscht; sie haben vielleicht damit den Weltfrieden auf das schwerste bedroht. Das Problem Berlin ist das sichtbarste Merkmal dieser Gefährdung, es ist aber bei weitem nicht das einzige.

Die Kreise der Bekennenden Kirche dagegen empfangen Barths Botschaft mit großer Dankbarkeit; man darf wohl behaupten, dass diese Botschaft zur Grundlage einer der wichtigsten Erklärungen der modernen Kirchengeschichte geworden ist. Als sich der Rat der evangelischen Kirche in Deutschland als Sprecher der Gesamtheit der Landeskirchen von ganz Deutschland am 18. und 19. Oktober 1945 versammelt, kommt auch eine ökumenische Delegation nach Stuttgart, um mit den Deutschen nach dem Sturm die Verbindung wieder aufzunehmen. Nach langen, dramatisch verlaufenden Besprechungen verfassen die Deutschen, von Niemöller angeregt, den unter dem Namen „das Schuldbekenntnis von Stuttgart“ bekannten Text. Diese entscheidende, leider heute selbst in Deutschland weithin vergessene Erklärung lautet folgendermaßen:

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland begrüßt bei einer Sitzung am 18. und 19. Oktober 1945 in Stuttgart Vertreter des ökumenischen Rates der Kirchen:

Wir sind für diesen Besuch um so dankbarer, als wir uns mit unserem Volke nicht nur in einer großen Gemeinschaft der Leiden wissen, sondern auch in einer Solidarität der Schuld. Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.

Nun soll in unseren Kirchen ein neuer Anfang gemacht werden. Gegründet auf die Heilige Schrift, mit ganzem Ernst ausgerichtet auf den alleinigen Herrn der Kirche, gehen sie daran, sich von glaubensfremden Einflüssen zu reinigen und sich selber zu ordnen. Wir hoffen zu dem Gott der Gnade und Barmherzigkeit, dass er unsere Kirchen als sein Werkzeug brauchen und ihnen Vollmacht geben wird, sein Wort zu verkünden und seinem Willen Gehorsam zu schaffen bei uns selbst und bei unserem ganzen Volk.

Dass wir uns bei diesem neuen Anfang mit den anderen Kirchen der ökumenischen Gemeinschaft herzlich verbunden wissen dürfen, erfüllt uns mit tiefer Freude.

Wir hoffen zu Gott, dass durch den gemeinsamen Dienst der Kirchen dem Geist der Gewalt und der Vergeltung, der heute von neuem mächtig werden will, in aller Welt gesteuert werde und der Geist des Friedens und der Liebe zur Herrschaft komme, in dem allein die gequälte Menschheit Genesung finden kann.

So bitten wir in einer Stunde, in der die ganze Welt einen neuen Anfang braucht: „Veni, Creator Spiritus!“

D. Wurm, Asmussen DD., D. Meiser, Dr. Lilje, Hahn, Held, Dr. Heinemann, Smend, D. Dr. Dibelius, Martin Niemöller, Lic. Niesei

Eine solche Haltung ist ein offensichtliches Zeichen der Gesundung; sie kann zur wahren Grundlage einer Begegnung im Frieden und gegenseitigen Vertrauen werden. Sie hat die Rückkehr der evangelischen Kirchen Deutschlands in den Kreis der ökumenischen Gemeinschaft besiegelt und die allgemeine Überzeugung gestärkt, die Christen der deutschen Nachkriegszeit hätten tatsächlich aus dem Sturm der Hitlerherrschaft etwas gelernt.

Schon im Jahre 1945 schlägt Barth den Weg über die Grenze nach Deutschland wieder ein. Man kann sich vorstellen, wie bewegend es für den Wortführer des geistlichen Widerstandes, den Mann des Barmer Bekenntnisses gewesen sein muss, alle diejenigen wieder zu finden, an die er unaufhörlich gedacht und mit denen er unaufhörlich gekämpft hat, obwohl er in seiner Basler Warte zurückgezogen zu leben schien. Barth hat in diesen Jahren wie kein anderer gezeigt, was aktiver Einsatz bei der systematischsten aller Theologien bedeutet und welche Verbundenheit Fürbitte schafft. Deshalb findet eine nahe und spontane Begegnung mit denen statt, deren entscheidender Begleiter er trotz der Grenze in diesen Jahren gewesen ist. In erster Linie ist Niemöller zu erwähnen. Barth schreibt gleich 1945 einen schönen erklärenden Artikel über ihn, da Niemöller, kaum aus achtjähriger Konzentrationslagerhaft entlassen, in bewundernswerter, aber beunruhigender Freiheit zu allen Problemen Stellung nimmt. Die beiden so verschiedenen Männer entdecken einander wieder neu und stärken ihre alte Freundschaft. Bei einer ihrer jeweils schwierigen, aber fruchtbaren Begegnungen hat folgendes Gespräch stattgefunden:

Barth: Martin, ich wundere mich, dass du trotz der wenigen systematischen Theologie, die du getrieben hast, doch fast immer das Richtige triffst!

Niemöller: Karl, ich wundere mich, dass du trotz der vielen systematischen Theologie, die du getrieben hast, doch fast immer das Richtige triffst!

Immer neu erklärt Barth der Welt Deutschland und dessen geistigen Widerstand in Artikeln, Unterredungen, Vorträgen aller Art…


Der Osten

Aber nicht nur die Bundesrepublik und ihr erstaunlich rascher, vom Interesse der Westmächte geleiteter Wiederaufbau verkörpert deutsche Gegenwart; diese Gegenwart tritt uns auch in Ostdeutschland entgegen, das gänzlich einem sowjetisierten Europa einverleibt worden ist. Barth fährt mehrmals nach Berlin – 1946 stößt er sogar nach Dresden vor -, er nimmt Fühlung mit der russischen Besatzungsmacht, mit den deutschen Kommunisten und mit Vertretern der ostdeutschen Kirche, die sich schon bald bedrängender Anfechtung ausgesetzt sieht. Die russischen Behörden und die deutschen Kommunisten merken rasch, dass der „Antifaschist“ Karl Barth, den sie begeistert zu feiern bereit sind, keineswegs ein Mann ihres Lagers ist, dass er sie enttäuschen und dass er der Mühle östlicher Propaganda kein Wasser zutragen werde.

Im Frühling 1948 unternimmt er eine Reise nach Ungarn; er kann dabei feststellen, wie lebendig die reformierte Kirche dieses Landes trotz kommunistischer Herrschaft – und zwar einer der strengsten in Osteuropa – ist.

Hier muss nun ein heikles Problem aufgegriffen werden: Es wird Barth von verschiedenen Seiten vorgeworfen, seine Haltung dem Kommunismus gegenüber sei nicht so eindeutig ablehnend, wie sie es dem Nationalsozialismus gegenüber gewesen sei. Und doch: wenn man den an Staatsminister Zaisser gerichteten Brief vom 2. März 1953 liest [384], der auf die Verhaftungen von Pfarrern in der demokratischen Republik Bezug nimmt (es war die Zeit der heftigen Verfolgungswelle, die sechs Monate lang, vom Februar bis zum Juli 1953, dauerte; dabei wurden zahlreiche Pfarrer verhaftet und zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt, um dann Mitte Juli wieder begnadigt zu werden) oder wenn man den später (Ende August 1958) verfaßten „Brief an einen Pfarrer in der Deutschen Demokratischen Republik“ liest, dann erkennt man sofort, dass nicht die Rede von falscher Gefälligkeit oder Schwäche gegen den Marxismus sein kann. Dennoch: Barth nimmt heute nicht jene Haltung der Jahre 1933 bis 1945, nämlich die eines unermüdlichen Wächters ein, der die Welt vor den drohenden Gefahren der damaligen Diktatur warnte. Wie läßt sich dieses relative Schweigen erklären?

Wenn Barth danach gefragt wird, so antwortet er:

Als Hitler 1933 die Macht ergriff, geschah dies unter Zustimmung, ja aktiver Teilnahme der ganzen Welt. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in den westlichen Demokratien und sogar in Rußland und der Schweiz wurde die Errichtung der Diktatur gewünscht, geduldet, bejaht. Eine Reihe von ungeschickten oder feigen Verfahren, wie der Münchner Vertrag 1938 oder das deutschrussische Abkommen von 1939, dienten geradezu der Sache des Nationalsozialismus und stärkten seine Position. Die kirchlichen Kreise, die den gotteslästerlichen Charakter des antisemitischen Nationalismus brandmarkten, waren eine kleine Minderheit. Damals musste der geistige Widerstand gestärkt und durch Wind und Wetter hindurchgeführt werden; man stand dabei notwendigerweise allein und scheinbar unterlegen da; es hieß gegen den Strom zu schwimmen und sich beträchtlichen Gefahren auszusetzen. Heute erhebt sich der ganze Westen ängstlich und aggressiv zugleich gegen die Sowjetunion. Der Antikommunismus dominiert in der politischen und religiösen Presse; innerhalb der Kirche ist er zu einem Lieblingsthema in Predigt und Unterricht geworden. Es besteht also keine ideologische Ansteckungsgefahr. Die Anhänger der „Friedensbewegung“ in Ostdeutschland und an anderen Orten haben nur eine ganz geringe Zahl von Christen für ihre Sache gewonnen, und sowohl die kirchlichen Behörden als die einfachen Gläubigen bemühen sich mit großem Eifer darum, dieser Minderheit ihren Irrtum zu beweisen. Der Antikommunismus besitzt patentierte Lehrer und Verteidiger bis in die kirchlichen Kreise hinein, von den radikalen wie Asmussen bis zu den gemäßigten, die Legion heißen; es besteht also keinerlei dringende Notwendigkeit, eine weitere Stimme in diesem Konzert ertönen zu lassen. Man muss sich auch davor hüten, im Namen irgendeines Antikommunismus gegen den kommunistischen Totalitarismus und seine dämonischen Übergriffe zu kämpfen. Etwas anderes ist viel wichtiger, nämlich dem Kommunismus im Namen Gottes des Allmächtigen und seiner frohen Botschaft zu widerstehen. 

Man soll auch unter keinen Umständen vergessen, dass der westliche Antikommunismus für den Westen selbst gefährlich werden könnte. Werden nämlich der so genannte „zukünftige Konflikt“ oder die gegenwärtige Kraftprobe mit dem Ostblock zum einzigen Lebenszweck der „freien Welt“, dann verliert diese weitgehend ihre Daseinsberechtigung: Nationalismus, Militarismus, soziale Rückständigkeit und die Macht des internationalen Kapitalismus sind Kehrseiten des Antikommunismus. Und das alles bedeutet für den Menschen des Westens ebenfalls Versuchung, zwar unmerkliche, aber auf die Länge vielleicht noch schädlicher wirkende Versuchung, als was den Menschen des Ostens am Kommunismus verführen könnte. Jedenfalls läuft die Kirche größere Gefahr, ihre Daseinsberechtigung zu verlieren, wenn sie sich blindlings und kritiklos dem Westen, seinen Ideologien und seinem Materialismus verschreibt, der um so verwirrender und gefährlicher wirkt, als er uneingestanden und durch keine eigentliche Theorie festgelegt ist. Die Kirche verliert dabei ihren echt evangelischen Charakter viel eher als in einem schmerzlichen Aufeinanderprallen bei offener oder maskierter Verfolgung, gegen die sie sich jenseits des eisernen Vorhangs zu wappnen hat. 

Der Kommunismus kann durch antikommunistische Propaganda und Militärgewalt allein nicht bekämpft werden. Nur die Errichtung einer positiven Weltordnung, die die wesentlichsten Menschenrechte sowie soziale Gerechtigkeit sichert, ist eine wirksame Antwort auf die Herausforderung, die in kommunistischer Ideologie und Taktik liegt. 

Die Kraftprobe mit dem Kommunismus, die Politik „am Rande des Abgrunds“, wie sie der Westen im Fahrwasser von J. Foster Dulles und so vielen andern Theologen oder Theoretikern aller Art übt, ist äußerst gefahrvoll: Im Grenzfall führt sie zu einem dritten Weltkrieg (ein solcher ist jedoch keineswegs unvermeidlich), über dessen verheerenden Ausgang im Zeitalter des Atoms kein Zweifel mehr besteht. Die Kirche hat also diese Richtung nicht noch zu verstärken. Weder dem Osten noch dem Westen angehörig, ist sie es sich und ihrem Herrn schuldig, zwischen beiden Blöcken zu stehen, Brücken zu schlagen, unermüdlich Verbindungen zu schaffen, Annäherungsversuche einzuleiten, die später vielleicht einmal zur Grundlage des Friedens werden dürfen.

In völligem Einverständnis mit Niemöller fordert Barth die unter kommunistischer Herrschaft lebenden Christen zur Wachsamkeit dem Staate gegenüber auf; er ermahnt sie aber auch, im Glauben daran festzuhalten, dass auch in ihrem Lande der lebendige Gott allein Herr ist, und dass es getreu auszuharren gilt an dem Posten, den der Herr der Kirche uns anvertraut hat. Im übrigen schweigt er; es gibt also nicht nur ein Prophetisches Reden, sondern auch ein prophetisches Schweigen, und dieses kann ebenso unruheerregend und dadurch bedeutungsvoll sein.

Und doch, wie er am Anfang des Jahres 1960 vom „Christian Century“ aufgefordert wird, eine Rückschau über die zehn vergangenen Jahre zu geben, nimmt er zur Weltlage in aller Klarheit Stellung. In seiner Erklärung, die wir leider hier unmöglich in extenso wiedergeben können, erklärt er mit seinem unwiderstehlichen Humor, diesem Humor, ohne den er nicht zu haben ist und in dem er gerne die erste aller christlichen Tugenden sieht, dass eine neue Wissenschaft, die Gerontologie, in diesen letzten zehn Jahren entstanden ist; dieses sei sehr günstig, da er von nun an in die Kategorien dieser Wissenschaft, die sich mit den Möglichkeiten und Grenzen des altgewordenen Menschen beschäftigt, passe. Denn in seinem Leben ist alles langsamer, schwerer, weiter geworden; Kinder und Enkelkinder zwingen ihn zu einem Blick, der von Chicago bis Djakarta schweift. Die Dogmatik ist immer noch nicht beendet – und die Welt ist immer noch dieselbe.

Es war die Ost-West-Frage, die seit dem Ende des zweiten Weltkrieges uns alle und so auch mich begleitet und beschattet hat. Eben in dieser Frage konnte und kann ich mit der großen Mehrzahl der mich umgebenden Geister nicht einig gehen. Nicht, dass ich für den östlichen Kommunismus im Blick auf seine bisherige Selbstdarstellung irgendeine Zuneigung aufzubringen vermöchte; ich ziehe es entschieden vor, nicht in seinem Bereich leben zu müssen, und wünsche es auch keinem anderen, dazu gezwungen zu werden. Ich sehe aber nicht ein, dass es politisch und gar noch christlich geboten oder erlaubt sein soll, solcher Abneigung und Ablehnung die Folgen zu geben, die man ihr im Westen seit fünfzehn Jahren in zunehmender Schärfe gegeben hat. Ich halte den prinzipiellen Antikommunismus für das noch größere Übel als den Kommunismus selber. Kann man übersehen, dass dieser das unwillkommene, aber in seiner ganzen Unart natürliche Ergebnis und Gegenspiel westlicher Entwicklungen ist? Spukt nicht gerade der totale, der gewiss unmenschliche Zwang, den wir ihm zum schwersten Vorwurf machen, in anderer Gestalt von jeher auch in unseren angeblich freien westlichen Gesellschafts- und Staatsordnungen? Und war es denn auf einmal etwas Neues und besonderen Entsetzens wert, dass der Kommunismus sich für eine alle Menschen und Völker beglückende und darum durch die ganze Welt zu verbreitende Heilslehre hält? Gibt es nicht auch andere Systeme dieser Art und Tendenz? Weiter: Konnte man den von ihm beherrschten Völkern und der durch ihn bedrohten Welt – konnte man auch nur einem einzigen der unter seinen Auswirkungen leidenden Menschen damit zu helfen meinen, dass man ein exklusives Feindverhältnis ihm gegenüber als die einzige Möglichkeit proklamierte und praktizieren wollte? Hatte man vergessen, dass es sich eben in diesem absoluten Feindverhältnis zu ihm, auf das nun im Westen jeder brave Mann zu verpflichten und alles und jedes auszurichten wäre, um eine typische Erfindung und Erbschaft unserer verflossenen Diktatoren handelt – dass nur der „Hitler in uns“ ein prinzipieller Antikommunist sein kann? …

Was war das für eine westliche Philosophie, politische Ethik – und leider auch Theologie, deren Weisheit darin bestand, den östlichen Kollektivmenschen in einen Engel der Finsternis, den westlichen „Organisation man“ aber in einen Engel des Lichtes umzudichten und mit Hilfe dieser Metaphysik und Mythologie dem absurden Wettlauf des „Kalten Krieges“ die nötige höhere Weihe zu geben? War man der Güte der westlichen Sache und war man der Widerstandskraft des westlichen Menschen nicht sicherer als so, dass man diesen nur vor die sinnlose Alternative: Freiheit und Menschenwürde oder gegenseitige atomare Vernichtung! zu stellen wusste, und eben diese letztere für alle Fälle von vornherein als ein Werk der wahren christlichen Nächstenliebe auszugeben wagte?! …

Und ich denke vor allem, dass es Auftrag der christlichen Kirchen gewesen wäre, den politisch führenden Verantwortlichen und der öffentlichen Meinung durch ihr überlegenes Zeugnis vom Frieden und von der Hoffnung des Reiches Gottes zu Hilfe zu kommen. Sie haben der Sache des Evangeliums durch die weithin völlig unbesonnene Art, in der sie sich mit der ebenso schlecht konzipierten wie ungeschickt geführten Sache des Westens identifiziert haben – Rom war darin nicht besser als Genf und Genf nicht besser als Rom -, einen Schaden zugefügt, der nach menschlichem Ermessen auch durch die besten ökumenischen und missionarischen Anstrengungen auf längste Zeit nicht wiedergutzumachen sein wird. Sie haben der östlichen Gottlosigkeit, statt sie praktisch zu widerlegen, neue, schwer zu überwindende Argumente geliefert.


Die Atomgefahr

Barth versteht es jedoch, das Schweigen zu brechen, wenn es sein muss. Seit mehreren Jahren beteiligt er sich aktiv am Kampf gegen den Atomkrieg, der in fast allen Ländern der Welt geführt wird. Wiederum steht er mit Niemöller an der Spitze der kämpfenden Kirche und vertritt die Meinung, dass die fieberhafte Aufrüstungsbewegung in einer Welt, die über die technische Möglichkeit verfügt, jegliches Leben auf unserem Planeten auszulöschen, dämonischer Natur sei und zur Vorbereitung eines allgemeinen Selbstmordes führe. Es heißt da mit allen Mitteln bremsen und die öffentliche Meinung aller Länder aufrütteln. Folgender Text, den er anfangs 1959 an den „Europäischen Kongress gegen Atomaufrüstung“ gerichtet hat, bezeugt diese Haltung:

I.

Die entscheidenden Argumente zum Aufweis des Unrechts und der Gefahr der atomaren Aufrüstung sind in den letzten Jahren von verschiedensten Seiten mit aller wünschenswerten Deutlichkeit vorgebracht und allgemein bekannt worden. Wer Ohren hatte zu hören, der konnte hören.

II.

Wir stehen aber vor der Tatsache :
a) dass unsere Regierungen das Problem zwar sehen und seinen Ernst anerkennen oder doch nicht leugnen, zur Durchführung und Fortsetzung ihres fatalen Unternehmens aber trotzdem entschlossen sind,
b) dass wohl auch die Mehrheit unserer Bevölkerungen, vor der mit der atomaren Aufrüstung verbundenen radikalen Bedrohung heimlich und zum Teil auch offen tief erschrocken, zu entschlossenem Widerspruch oder gar Widerstand in dieser Sache aber nicht bereit sind,
c) dass sich insbesondere die gebildeten und auch ein großer Teil der kirchlich gesinnten Kreise zwar gerne in tiefgründigen philosophischen und theologischen Erörterungen über die Tragik des Menschen des Atomzeitalters und dergleichen ergehen, einer konkreten Entscheidung gegen die atomare Aufrüstung aber hartnäckig ausweichen.

III.

Der Grund dieses Selbstwiderspruchs besteht überall in der Angst der vermeintlich noch schwereren Bedrohung heiligster Güter durch den ideologischen und weltpolitischen Gegner, dem man anders als mit der Gegendrohung mittels der Atomwaffe nicht begegnen zu können meint.

IV.

Lässt sich dieser ideologische und weltpolitische Gegensatz und die aus ihm erwachsende gegenseitige Angst nicht aus der Welt schaffen, so dürfte der Widerspruch zwischen der besseren Erkenntnis und der schlechten Praxis unserer Regierungen, der Majorität unserer Bevölkerungen, unserer Bildungswelt und unserer Kirchen unüberwindlich — dürfte also mit unheiligem und unheilvollem Fortgang der atomaren Rüstung zu rechnen sein.

V.

Die entscheidende Aufgabe der Gegner der atomaren Aufrüstung dürfte also in einer neuen, von Vorurteilen unbelasteten Anstrengung zur Überwindung jenes ideologisch-wellpolitischen Gegensatzes, d. h. aber darin bestehen, dass sie selbst eine von jener gegenseitigen Angst freie, allein an Gott und am wirklichen Menschen orientierte Position beziehen und sichtbar machen.

VI.

Es ist selbstverständlich, dass die Opposition gegen atomare Aufrüstung auch unabhängig von diesem größeren Zusammenhang und ohne Rücksicht auf direkte Erfolge oder Misserfolge auf der ganzen Linie (in jedem Land und Bereich in der den Verhältnissen angemessenen Weise) weitergehen muss.

VII.

Die Frage drängt sich auf – und es möchte sein, dass der Kongress auch zu dieser Frage Stellung zu nehmen hat -, ob diese Opposition sich nicht, da der Worte nun genug gewechselt sein dürften, zum aktiven Widerstand (etwa in der Form von offenen Aufforderungen zu Dienstverweigerungen) verdichten sollte?

Karl Barth Basel, 7. Januar 1959


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