Jul 162019
 

Ein Wort zu Bischof Dr. Wolfgang Huber

Von Willibald Jacob, 2004

Während eines Urlaubs in einem entlegenen Schweizer Bergtal lerne ich eine Gruppe von Nachbarinnen kennen, Katholiken, Protestanten und Atheisten, die sich mit aktuellen Fragen befassen. Die Einladung zu ihren Versammlungen im Halbjahr 2004/2005 beginnt mit den Worten:

»Karriere, Reichtum, Macht, Leistung, Ansehen. Schlagworte, die in unserer neoliberalen Gesellschaft zählen. Schließlich ist >jeder seines Glückes Schmied<. Tatsächlich? Die Hungernden, Unter­drückten, Ausgebeuteten, Kranken, die Opfer von Terror und Ge­walt.

Der Gott der Bibel ist ein parteiischer Gott, er stellt sich auf die Seite der Kleinen und Schwachen, ergreift die Option für die Armen. >Ich habe das Elend meines Volkes gesehen, ich habe ihre Klage gehört. Ich will sie aus dem Sklavenhause herausführen in ein Land, das von Milch und Honig fließt< (Exodus 3, 7).

Die Bibel entwirft Visionen, Gegenwelten zur real existierenden Welt. Diesen Gegenwelten versuchen wir… auf die Spur zu kom­men.«

Welch ein Ton!? Wie kommt er in die »reiche Schweiz«? Es leben auch dort nicht nur reiche Leute; es leben dort Menschen, die über ihren Tellerrand hinausschauen; die begriffen haben, daß mit dem sog. Neoliberalismus ein neues Zeitalter von Ausbeutung und Klas­senkämpfen begonnen hat. – Alte, überholte Worte? Ausbeutung? Klassenkampf? Wie kommen Christen und Christinnen dazu, sie weiterhin zu benutzen oder sie neu zu buchstabieren?

Es sind drei Erfahrungen, die nicht vergessen werden können, es sei denn, die Kirche verleugnet ihre eigene Sache in unserer Zeit:

  • Der Kampf um das angemessene Verständnis des Evangeliums in der Zeit des Faschismus, das von dem Juden Jesus aus Nazareth aus­geht; Leben, Leiden und Werk von Karl Barth, Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer stehen exemplarisch für diesen Kampf der Bekennenden Kirche.
  • Das Leiden und Sterben von Christen und Christinnen in La­teinamerika, Afrika und Asien im Ringen um Befreiung und soziale Gerechtigkeit nach dem 2. Weltkrieg, die Theologie der Befreiung steht für dieses Ringen bis heute.
  • Die Erfahrungen mit der biblischen Botschaft in Europa in den letzten Jahrzehnten angesichts der Experimente und des Scheiterns von Realsozialismus und Realkapitalismus; aus diesen Erfahrungen sind bis heute keine Konsequenzen gezogen worden.

»Wir glauben, dass Gott über die ganze Schöpfung regiert. »Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist« (Ps24, 1)… Darum sagen wir Nein zur gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung, die vom globalen neoliberalen Kapitalismus aufgezwungen wird, und zu jedem anderen Wirtschaftssystem, ein­schließlich der Planwirtschaft, das sich Gottes Bund widersetzt, indem es die Armen, die Verwundbaren und die ganze Schöpfung von der Fülle des Lebens ausschlleßt. Wir lehnen jeden Anspruch eines wirt­schaftlichen, politischen und militärischen Imperiums ab, das Gottes Herrschaft über das Leben untergräbt und gegen die gerechte Herr­schaft Gottes handelt.«

Reformierter Weltbund, Generalversammlung, Dokument: Bund für wirt­schaftliche und ökologische Gerechtigkeit, Accra, Ghana, August 2004

Die ökumenische Alternative

Seit der Weltwirtschaftskrise 1929 und der Wahl und Machtergreifung Adolf Hitlers 1933 sind den Gliedern der christlichen Gemeinden Schritt für Schritt die Augen geöffnet worden für die ungeheure Macht, die von der Wirtschaft und damit in einer bestimmten Weise von der Arbeitswelt des Menschen ausgeht. Traditionell standen in den Kirchen die Themen von Familie und Staat im Vordergrund. Jetzt änderte sich dies. Die Geschichte der ökumenischen Bewegung und des Weltrates der Kirchen in Genf dokumentieren auf eindrucksvolle Weise den Erkenntnisprozess, der an den Punkt führte, an dem nach sorgfältiger Prüfung der kirchlich relevanten Dokumente gesagt wer­den musste: Die wirtschaftlichen Mächte unserer Zeit, Banken, Kon­zerne und global arbeitende ökonomische Großorganisationen sind hauptverantwortlich für Krieg oder Frieden, Ausbeutung oder Befrei­ung, Nichtentwicklung oder Entwicklung von Menschen. Vor dieser Erkenntnis sollte uns niemand mehr die Augen verschließen dürfen, auch kein Bischof und keine Kirchenleitung. Dies sei betont angesichts des Artikels von Bischof Dr. Wolfgang Huber im »Neuen Deutschland« vom 30. Juli 2004. Mehr durch sein Schweigen als durch sein Reden führt er uns zurück zu überholten Positionen. Er stellt uns vor Alterna­tiven und Ausschließlichkeiten, die keine sind. Bischof Huber übergeht die eine Ausschließlichkeit, die heute biblisch relevant und menschlich konkret erfahrbar ist: Die Ausschließlichkeit von neoliberaler Wirt­schaft, die unser ganzes Leben durchdringt, und christlichem Glauben. Den Artikel von Bischof Huber nehme ich daher zum Anlaß, die Vor­aussetzungen zu schildern, unter denen m. E. gesellschaftliche und politische Mitarbeit von Christen und Christinnen heute sinnvoll ist. Ich denke, daß somit die Kritik des Bischofs in einem anderen Licht er­scheint und hoffe, daß deutlich wird, warum Gespräch, Zusammen­arbeit und Mitgliedschaft von Christen mit und in der PDS nicht nur möglich, sondern geradezu geboten ist.

Im Jahre 1986 veröffentlichte Dr. Ulrich Duchrow, Professor für systematische Theologie in Heidelberg und langjähriger Direktor der Studienabteilung des Lutherischen Weltbundes, ein Buch mit dem Titel »Weltwirtschaft heute – Ein Feld für Bekennende Kirche?« Duchrow fragt darin, ob nicht längst durch das wirtschaftliche Han­deln der reichen Industrieländer eine Situation entstanden ist, die das warnende und Einhalt gebietende Handeln und Reden der Kirchen erforderlich macht; ähnlich wie im faschistischen Deutschland, im Südafrika der Apartheid und angesichts der permanenten Bedrohung der Menschheit mit atomaren Massenvernichtungsmitteln.

Die kirchliche Tradition hat dafür einen Fachausdruck: Status confessionis, die Feststellung und das Gebot des widerständischen Bekennens im Namen Gottes. Wer hier schweigt, verleugnet Gottes Menschenfreundlichkeit  und sein Mitleiden in Jesus von Nazareth. Übertragen auf die Weltwirtschaft, die heute bis in jedes Branden­burger und Württemberger, Mecklenburger und ostfriesische Dorf wirkt, heißt das: Die Ökonomie verfehlt ihre lebenserhaltende Auf­gabe; sie wird mörderisch. Hier scheiden sich die Geister. Menschen sollen zur Besinnung kommen.

Duchrow zitiert den niederländischen Ökonomen und Mitglied des Zentralausschusses des ökumenischen Rates der Kirchen Harry de Lange, der 1980 an die vorangegangenen Debatten erinnert und sagt:

»Es müssen wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aktivitäten entwickelt werden, die an erster Stelle die Bedürfnisse der ärmsten gesellschaftlichen Gruppen befriedigen. – Es ist an der Zeit, das Ar­mutsproblem zum Status confessionis zu erklären.«

Dies ist nicht moralisch, sondern strukturell gemeint. Die Christenheit hat seither die Möglichkeit, die strukturellen ökonomischen und gesellschaft­lichen Ursachen von Armut, Unterentwicklung und Kriegen zu er­kennen. Spätestens seit 1980 rührt die ökonomische Frage an die Substanz des christlichen Glaubens. Seither wird sich ein Christ die Frage gefallen lassen müssen: Wie hältst du es mit dem Glauben und der Ökonomie?

Die Entwicklung einer neoliberalen Wirtschaftstheorie und -praxis, ihre sukzessive Durchsetzung seit der Mitte der siebziger Jahre und der Zusammenbruch von Realsozialismus und Realkapitalismus haben die Fragestellungen verschärft. Der konziliare Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, die ökume­nischen Weltkonferenzen der letzten 15 Jahre haben die Alternative klar formuliert: Gott oder Mammon? Beide sind unvereinbar. Das heißt auch: Neoliberale Wirtschaftsweise und Weitsicht sind mit christlichem Glauben und christlicher Hoffnung unvereinbar. Im Juni 2002 sagt eine Konsultation des ökumenischen Rates der Kir­chen, des Reformierten Weltbundes, des Lutherischen Weltbundes und der Konferenz Europäischer Kirchen in einem Brief an die Kir­chen in Westeuropa u. a.:

»Um der Integrität ihrer Gemeinschaft und ihres Zeugnisses wil­len, sind Kirchen aufgerufen, gegen die neoliberale Wirtschaftslehre und -praxis aufzutreten und Gott zu folgen. Die Konsultationen, die bisher stattfanden, zeigen eine wachsende Übereinstimmung darin, dass es Götzendienst gleichkommt, den globalen Markt nach Maß­gabe einer unhinterfragten neoliberalen Wirtschaftslehre auszuge­stalten, weil dies zu Ausschluss, Gewalt und Tod führt. Diese Wirklichkeit, aber auch die Möglichkeit zur Veränderung und von Alter­nativen, wurden sichtbar, als wir von Geschichten derer, die unter den Auswirkungen der Umsetzung des Neoliberalismus leiden, be­richteten und auf den Brief und die Botschaften von Schwestern und Brüdern aus dem Süden und aus Zentral- und Osteuropa hörten.«

Eine andere Ausschließlichkeit

Wären diese Erkenntnisse eine Brücke zur Partei des demokrati­schen Sozialismus? Bischof Dr. Huber schweigt zu diesem von mir angedeuteten ökumenischen Erkenntnisprozess und seinem Ergebnis. Er betritt die Brücke nicht, die uns die Weltchristenheit gebaut hat, um mit unseren nichtchristlichen Zeitgenossen und Zeitgenossinnen ins Gespräch und zu gemeinsamem Handeln zu kommen. Dabei geht es m. E. nicht allein um das Verhältnis zu einer sozialistischen Par­tei, sondern um das Verhältnis zu allen, die heute nach Gerechtigkeit schreien und die christliche Variante des Schreies vernehmen möch­ten. Der Bischof stellt dagegen die Gretchenfrage Goethes: Wie hältst du es mit der Religion? Gleichzeitig konstatiert er eine neue Unvereinbarkeit, die Unvereinbarkeit von Pfarramt und Mitglied­schaft und Mitarbeit in der PDS.

»Wir glauben, dass Gott ein Gott der Gerechtigkeit ist. In einer Welt voller Korruption, Ausbeutung und Habsucht ist Gott in einer besonderen Weise der Gott der Not­leidenden, der Armen, der Ausgebeuteten, der unge­recht Behandelten und der Missbrauchten (Ps 146, 7-9). Gott fordert gerechte Be­ziehungen in der ganzen Schöpfung… Darum lehnen wir jede Ideologie und jedes wirtschaftliche Regime ab, das den Profit über Men­schen stellt, das nicht für die ganze Schöpfung sorgt, und das jene Gaben Gottes, die für alle gedacht sind, als Privateigentum ansieht. Wir weisen jede Lehre zurück, die jene rechtfertigt, die solch eine Ideologie im Namen des Evangeliums unterstützen oder ihr nicht widerstehen… Die General­versammlung verpflichtet den Reformierten Weltbund zusammen mit anderen Gemeinschaften, der öku­menischen Gemeinschaft, der Gemeinschaft anderer Glaubensrichtungen sowie Bewegungen der Zivil­gesellschaft für eine gerechte Wirtschaft und die Bewahrung der Schöpfung einzutreten und ruft unsere Mitgliedskirchen auf, das Gleiche zu tun… Abschlie­ßend bekennen wir leiden­schaftlich, dass wir uns verpflichten werden, unsere Zeit und unsere Energie darauf zu verwenden, die Wirtschaft und die Erde zu verändern, zu erneuern und wiederherzustellen und damit das Leben zu wählen, auf dass wir und unsere Nachkommen leben können (5 Mo 30, 19).«

Bischof Dr. Huber verdeckt für den Leser und die Leserin des »Neuen Deutschlands« die eine grundlegende Alternative unserer Zeit durch eine pragmatisch zu handhabende Frage. Er verursacht eine Umkehrung der Fragestellung: Nicht Gott oder Mammon, son­dern Religion oder Sozialismus. Die ökumenische Alternative »Gott oder Mammon« stellt auch jeden Christen, Pfarrer und Theologen in CDU, CSU, SPD, Grüne und FDP vor schwerwiegende Probleme; praktizieren doch diese Parteien den Neoliberalismus ausdrücklich. Bischof Hubers Alternative kultiviert den alten Konflikt zwischen Christen und Sozialisten, obwohl er im Prinzip durch die Einsichten der ökumenischen Christenheit überwunden ist. Die Alternative lau­tet nicht mehr »Religion oder Sozialismus« und der Pfarrer und die Pfarrerin sind nicht mehr primär Vertreter in Sachen Religion, son­dern Anwälte der von Gott geliebten Menschen, in welcher institu­tionellen Ausprägung auch immer. Wobei nach meiner Erfahrung der Spielraum für Diskussionen und unterschiedliche Ansichten in der PDS heute größer ist als in anderen Parteien. ln der PDS kann eine Situation noch geprüft werden, ln den anderen Parteien heißt es: TINA! There Is No Alternative! Hier wird akzeptiert, dass die ei­gentlichen gesellschaftlichen Machtzentren bei den großen wirt­schaftlichen Einheiten liegen. Das gewählte Parlament akzeptiert heute die Vorgaben der Wirtschaft.

Das Schweigen des Bischofs an dieser Stelle erweckt den Ein­druck, als akzeptiere auch er. Auch die Kirche soll den Vorgaben der Wirtschaft folgen. So kamen Bischof Huber und Kardinal Lehmann in die Lage, der Agenda 2010 zuzustimmen, gegen alle Warnungen von evangelischen und katholischen Sozialethikern und gegen die Grundintention ökumenischer Erklärungen und Beschlüsse. Hier liegt m. E. der eigentliche Dissens zwischen Bischof Huber und der PDS.

Die Erwartungen des Bischofs oder die Umkehr der Christenheit

Was bleibt für den Repräsentanten der Evangelischen Kirche in Deutschland in der Öffentlichkeit, als für die Religion zu streiten? In Brüssel für den Gottesbezug in der EU-Verfassung, in Berlin für die positive Religionsfreiheit (also für den rechtlichen Schutz der Reli­gionsausübung und nicht nur für den Schutz der Nichtausübung von Religion).

Bischof Dr. Huber trägt Erwartungen an die PDS heran. Neben dem Schutz der Religionsausübung erwartet er von ihr ein inneres Verständnis für Religion, und dass die PDS »das dunkle Kapitel der Verfolgung von Christinnen und Christen in der DDR offen thema­tisiert«, um letzten Endes für verletzte Menschen »ein unbefangenes Zugehen auf die PDS in absehbarer Zeit« zu ermöglichen. Bischof Huber berührt damit wahrhaft sensible Themen. Auf indirekte Weise wird auch klar, dass der Versöhnungsprozess im vereinigten Deutsch­land nicht gelungen ist. Für ein Aufeinanderzugehen wäre Unbefan­genheit auf beiden Seiten nötig. Es ist nach 15 Jahren Vereinigung und in einer Zeit neuer politischer Anspannungen und sozialökono­mischer Konflikte leicht erkennbar, dass wir keine Versöhnungskommission im Sinne des Südafrikanischen Erzbischofs Desmund Tutu hatten. Eine staatliche Behörde ist ungeeignet für Selbsterkenntnis und Befreiung. Bischof Huber verschweigt auch an dieser Stelle eine wesentliche Voraussetzung menschlichen Zusammenlebens in Europa: das Vorbild von Christen und Christinnen und das exem­plarische Wort der Kirche, nämlich das eigene Schuld- und Umkehrbekenntnis. Es fehlt.

Es kann Bischof Huber nicht unbekannt sein, dass auch Sozialsten und Kommunisten ein Geschichtsbewusstsein haben und im Gedächt­nis behalten, was Christen ihnen angetan haben. Sie haben Zurück­setzung, Verfolgung, Folter und Tod erlitten, während die Kirchen schwiegen oder aktiv beteiligt waren. Nicht nur Juden sind vernich­tet worden. Wo heute Christen und Sozialisten aufeinander zugehen, sind die beiderseitigen Erfahrungen präsent oder werden angespro­chen. So werden Befangenheiten abgebaut.

Als im Jahre 1945 die Waffen schwiegen, bekannte eine repräsen­tative Minderheit von Christen und Kirchenführern, aufgefordert durch westliche Kirchenvertreter, angeregt durch den Aufruf des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Deutschlands und ver­mittelt durch den Schweizer Karl Barth, in den Erklärungen von Stuttgart und Darmstadt ihre Schuld und ihre Irrwege hin zu Adolf Hitler.

»… mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden… «

»… wir sind in die Irre gegangen, als wir übersahen, dass der öko­nomische Materialismus der marxistischen Lehre die Kirche an den Auftrag und die Verheißung der Gemeinde für das Leben und Zu­sammenleben der Menschen im Diesseits hätte gemahnen müssen. Wir haben es unterlassen, die Sache der Armen und Entrechteten gemäß dem Evangelium von Gottes kommendem Reich zur Sache der Christenheit zu machen… «

Der Theologe Hans-Joachim Kraus schrieb:

»Die Ausrottung der Juden Europas … bedeutet die tiefste Krise, in die das Christentum je hineingekommen ist.«

Heute, 60 Jahre später, ist das Schuld- und Umkehrbekenntnis der Christenheit in Deutschland nötiger denn je. Es genügt nicht, stei­nerne Monumente zu errichten, Gedenktafeln einzuweihen und den Gottesbezug für den Text der Europäischen Verfassung zu fordern. Es sollte angesichts der Völker Europas und der Welt klargestellt werden, welcher Gott und Herr gemeint ist: Mammon, Mars oder Je­sus. Und zwar in Wort und Tat und unabhängig davon, ob im Ver­fassungstext der Name Gottes genannt wird oder nicht. Nochmals Hans-Joachim Kraus:

»Und alle diejenigen haben in unserem Volk den Ernst dieser Krise nicht recht erkannt, die mit großem Pathos von dem geistigen Erbe reden, das sich aus Antike und Christentum zusammenfügt und das nun im Abendland zu retten sei. Wieder wird an dem verachteten Grundfaktor vorübergegangen und wieder wird das abendländische Haus des christlichen Heiden renoviert.«

Wer sich den Entwurf zur Verfassung für Europa ansieht, weiß, was gemeint ist. Angesichts der zentralen Stellung von profitorien­tierter Ökonomie und expansiven militärischen Missionen in aller Welt fehlt das warnende und die eigenen Irrwege bekennende Wort der Kirchen. Wieder wird »an dem verachteten Grundfaktor vor­übergegangen«, an der Thora und den Propheten in Gestalt der zentralen sozialen Frage im strukturellen Sinne. Es fehlt der Hinweis, dass die Vollendung der Einigung Deutschlands und Europas nicht gelingen kann, wenn die neoliberalen Prinzipien für das Leben und Zusammenleben der Menschen Anwendung finden. Dann wird nur der Stärkere »siegen«. Der »christliche Heide« renoviert sein Haus und fragt nicht nach den »Obdachlosen«.

Das Paradigma Ostdeutschland

Ostdeutschland ist das Paradigma für diese Entwicklung in Europa. Die Proteste gegen Hartz IV signalisieren das Wissen der Menschen um eine grundlegende Fehlentwicklung, gegen die mit Geld und Moral nicht anzukommen ist. (Ihr Ruf lautet: »Wir wollen Arbeit« nicht »Wir wollen Almosen«!) Somit besteht die Gefahr, dass Reli­gion wiederum zu einem Mittel der Vertröstung in auswegloser Situation verkommt, zum »Opium des Volkes«, das seine Situation nicht zu erklären weiß, oder gar zum Kampfmittel in Abgrenzung zu anderen im Überlebenskampf. Christen und Kirche sollten daher das Neutralitätsgebot in öffentlichen Einrichtungen und das Eintreten für die negative Religionsfreiheit als Warnsignal nehmen. Wo die so­ziale Frage neu aufbricht, aber nicht gelöst wird, entsteht eine Situa­tion, in der Religion missbraucht oder gar zum Risiko wird. Der »französische Weg«, d. h. die striktere Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften in Frankreich, signalisiert diese Gefahren und zeigt die Sensibilität einer nachrevolutionären, säkularen euro­päischen Gesellschaft. (In Frankreich fehlen die gesellschaftlichen Voraussetzungen, z. B. für den Religionsunterricht an staatlichen Schulen, für den Einzug von Kirchensteuern durch staatliche Behör­den und die flächendeckende Subventionierung der kirchlichen Sozialwerke durch den Staat. Die Träger dieser kirchlichen Aktivitä­ten sind dort im Wesentlichen die lokalen Kirchengemeinden und christliche Basisgruppen.) Die Ähnlichkeiten der französischen und der ostdeutschen Gesellschaft sind in Sachen Religion m. E. unübersehbar.

Ein neues Denken und neue sozial ökonomische Strukturen sind notwendig. Radikalprivatisierungen und die Flexibilisierung des Ar­beitsmarktes, Privatisierung der Gewinne und Sozialisierung der Verluste und Lasten sind dafür ungeeignet. Alternative Konzepte, die der ökumenischen Alternative entsprechen, liegen vor. Attac, PDS und die Weltsozialforen, aber auch UNO-Gremien haben sie zusammengetragen. Es besteht kein Anlass, vor der PDS zu warnen, solange wir eine Parteiendemokratie haben. Im Gegenteil. Es könnte die Zeit nahe sein, da christliche Gemeinden und Gruppen von ihren Pfarrern und Pfarrerinnen erwarten, dass sie mit der Partei des de­mokratischen Sozialismus kooperieren und mit dafür sorgen, dass Sozialistinnen und Sozialisten bei ihrer Sache bleiben und für so­ziale Gerechtigkeit streiten.


Literatur

Das Darmstädter Wort des Bruderrates der Bekennen­den Kirche zum politischen Weg unseres Volkes, in: Willibald Jacob: Der Ost­wind weht, wo er will. Aufsätze und Reden, Scheunen-Verlag Kückens­hagen 1995.

Der Brief der Soesterberg- Konsultation an die Kirchen in Westeuropa, in: EPD- Dokumentation 43 a, Frankfurt am Main 2002.

Ders.: Vor Gott und den Menschen, Wolfgang Huber im Gespräch mit Stefan Berg, Wichern Verlag Berlin 2004.

Duchrow, Ulrich: Weltwirt­schaft heute – Ein Feld für Bekennende Kirche? Christian Kaiser Verlag München 1986.

Huber, Wolfgang: Pfarramt und PDS – Mitgliedschaft sind nach meinem Ver­ständnis unvereinbar, in: Neues Deutschland, 30. Juli 2004.

Kraus, Hans-Joachim: Begegnung mit dem Juden­tum. Das Erbe Israels und die Christenheit, Furche Verlag Hamburg 1963.

Marquardt, Friedrich- Wilhelm: Wie die Schuld bei den Evangelischen eine Frage wurde. Politisch-theologische Aspekte kirchlicher Schuldkultur, in: Erinnern, Erkundungen zu einer theologischen Basis­kategorie, Wissenschaft­liche Buchgesellschaft Darmstadt 2003.

Reformierter Weltbund, 24. Generalversammlung, Dokument: Bund für wirt­schaftliche und ökologische Gerechtigkeit, Accra, Ghana, August 2004.

Stuttgarter Schulderklärung des Rates der Ev. Kirchen In Deutschland, In: Martin Niemöller: Ein Lesebuch, Pahl-Rugenstein-Verlag Köln 1987.


Quelle: UTOPIE kreativ, Heft 170 (Dezember 2004), S. 1119-1124


Willibald Jacob 2015

Willibald Jacob, * 26. Januar 1932  † 3. Juli 2019, Dr. theol., Theologe und Ingenieur für Straßeninstandhaltung, Pfarrer der Evangelischen Kirchen in Berlin-Brandenburg – Region Ost 1955 bis 1992, Dozent für evangelische Sozialethik in Indien 1985 bis 1988, ab 1992 Indien­referent der Entwicklungs­politischen Gesellschaft e. V. (EPOG), Mitglied des Bundestages für die PDS 1994 bis 1998.

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