Mrz 132016
 
Rezension zur Neuauflage von „Ursprung und Gegenwart“

Von Peter Gottwald

65 Jahre nach dem ersten Erscheinen und 40 Jahre nach Erscheinen der revidierten und erweiterten Fassung wird nun Jean Gebsers Werk „Ursprung und Gegenwart“ im Chronos-Verlag Zürich erneut herausgegeben. Mit welchen Worten könnte man den Heutigen dieses epochale Werk ans Herz legen? So viele Jahre hat es den Einen schon Mut gemacht (unter ihnen der Jesuitenpater und Zenlehrer Hugo-Makibi Enomya-Lassalle sowie Carl-Friedrich von Weizsäcker), Andere haben es als „Esoterik“ abgelehnt. Für den Amerikaner Ken Wilber wurde Gebser zum Kronzeugen in seinem eigenen Prozess der Selbst- und Standortbestimmung im Universum.

Da ich es nun seit 30 Jahren den Studierenden unserer Carl von Ossietzky-Universität vorgestellt habe, wähle ich für diese Besprechung den dort bewährten Zugang. Er beginnt mit der Beschreibung, wie der 27-jährige Jean Gebser in einer tiefen Krise eine „Erfahrung“ macht, die ihn mit den Worten (Gebser nennt es einen Gedanken, der zu ihm kam) zurücklässt „Freiheit von Raum und Zeit“. Für Viele mag das wir ein Traum vergessen werden, für Gebser wurde es zum Antrieb für die lebenslangen Suche nach Ähnlichem in der Geschichte und in der Gegenwart, nach Menschen und ihren „einschlägigen“ Werken.

Die ersten Befunde aus dem Bereich der Wissenschaften veröffentlichte er 1944 unter dem Titel „Abendländische Wandlung“, ein Buch, das man heute getrost in seinem Geiste fortschreiben möchte, da so viele neue Ergebnisse und Denkweisen (man denke nur an Kybernetik und Informatik) vorliegen, die nicht nur auf Verstehen, sondern auch auf eine Integration in eine umfassende Weltsicht warten.

Eine solche nun legte Gebser mit seinem zweiten Werk, „Ursprung und Gegenwart“ vor. An die Stelle der „Drei Welten“ des ersten Buches: „Un-perspektivische, Perspektivische und A-Perspektivische“ tritt hier eine Abfolge von Kulturen in Erscheinung, welche Gebser die „Archaische, Magische, Mythische und Mentale“ nennt. Letztere ist die unsere, besser gesagt die im Abendland zur Reife gekommene und seither herrschende, weltweit auf dem Vormarsch – aber auch bedroht durch immer stärkere rationale Zersplitterung, durch Verleugnung magischen und mythischen Erbes. Damit zeigt sich ein weiteres Ergebnis von Gebsers Analyse: Kulturen entstehen wie Mutationen, sie haben eine Blüte- aber auch eine Verfallsphase, in der sich Keime des jeweils Neuen zeigen, die dann zur Reife kommen. Am genauesten untersucht ist bekanntlich der Übergang vom Mythos zur Mentalität: Hier gelangt Gebser unabhängig von Jaspers, der zeitgleich sein Werk „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“ (darin der Begriff der „Achsenzeit“) veröffentlichte, zu demselben Ergebnis.

Bliebe es dabei, wäre Gebsers Werk „Geschichte“. Über Jaspers hinausgehend, nimmt Gebser in unserer Gegenwart Keime eines neuen, eines „Integralen Bewusstseins“ wahr, das sich in Einzelnen manifestiere (Gebser nennt eine Fülle von Beispielen) und das zu einem neuen Menschen und dessen neuer Kultur werden könnte. Für Gebser war dieser Wandel indessen auch bedroht durch Krisen, die ja heute noch drohender erscheinen als in Gebsers letzten Lebensjahren. „Entweder überwinden wir die Krise, oder die Krise überwindet uns“, sagte er. Wie aber stellt sich für Gebser die neue Mutation dar, die ja mit einem Wandel vieler einzelner Menschen beginnen muss? Hier verwendet er die Metapher vom „Sprung“ über einen Abgrund. Dieser Sprung, der ohne die Sicherheit eines „Ankommens“ gewagt werden muss, kann rational weder begründet noch vorbereitet werden – gleichwohl ist er das Thema der Moderne, von Kafka bis Musil und Beckett, und weit darüber hinaus.

Gebser gibt keine direkten Hinweise, er zeigt keine „Methode der Wandlung“, doch lassen sich in der zweiten Auflage, die nach seiner Asienreise („Asien lächelt anders“) entstand, Spuren einer Haltung aufweisen, die mit der japanischen Zentradition in Verbindung stehen. Das dort erfahrbare „Satori“ gilt ihm als eine Manifestation des Integralen Bewusstseins; hier wie dort ist eine solche Erfahrung durch lebenslange weitere Arbeit zu integrieren.

Gebsers Werk ist nicht leicht zu lesen; die Sprache ist oft wie bedrängt, ja atemlos. Seine enorme Lese- und Aneignungsleistung ist bewundernswert. Da er an keine Tradition, weder eine wissenschaftliche, noch eine religiöse oder philosophische Tradition anknüpfen kann, bietet er seinen Leserinnen und Lesern gleichsam drei „Andockmöglichkeiten“: Eine christliche, eine zenbuddhistische (davon war schon die Rede) und eine „Unirdisch-Außerirdische“, die für diesen Rezensenten die problematischste ist. Wenn Gebser von einer „Intensivierung des Christentums“ spricht und Christus für einen Vorläufer (und gleichzeitig schon Vollkommenen) hält, berührt er Glaubensvorstellungen, die nicht von allen geteilt werden.

Da die Vorstellung von einer kulturellen Mutation (man denke auch an Pierre Bertaux´ „Mutationen der Menschheit“) heute vor allem aus den USA und mit Wilber´s Werk zu uns zurückkehrt, scheint Gebsers Werk überholt und nicht mehr aktuell. Nach meiner Meinung ist das nicht der Fall. Es harrt allerdings der weiteren Wahrnehmung nicht nur durch unsere Eliten, sondern vielmehr noch durch ein Schulsystem, in dem Gebser zur Pflichtlektüre wird auch deshalb, weil er zeigen konnte, wie jedes Kind ein magisches, ein mythisches Bewusstsein durchläuft, bis es durch die Schule mit dem mentalen vertraut gemacht wird, das unser Leben bestimmt. Könnte es, wie Gebser dies empfahl, das leisten, ohne Magisches und Mythisches zu vergessen, noch weniger zu verteufeln (vgl. dazu C. Levi-Strauss: „Wir sind alle Kannibalen“), sondern es zu integrieren, dann wäre schon ein wichtiger Schritt zu einer neuen Integrität getan. Der Sprung, die Wandlung eines jeden Menschen, freilich ist immer noch notwendig, damit die Keime des Neuen wachsen können.

Hinzugefügt sei, dass die Ausgabe jetzt zweibändig erscheint mit integriertem Kommentarteil, also sehr leserfreundlich. Die Illustrationen erscheinen nun an der Stelle, an der sie auch besprochen werden.


Links

Leseprobe aus dem Buch „Zen im Westen – neue Lehrrede für eine alte Übung“ von Peter Gottwald

Der Beitrag „Auf dem Wege zu neuer Wirklichkeit“ von Kai Hellbusch fragt nach dem Zusammenhang von Wirklichkeit und den Bewusstseinsstrukturen von Jean Gebser, auch als   172 KB.

Gast bei Tom Steininger ist Peter Gottwald
Thema: Jean Gebser und die Vision eines integralen Bewusstseins