Europa verliert seinen Raum. Ländliche Gebiete werden in ganz Europa von zentralen Infrastrukturnetzen abgekoppelt und verlieren überdies recht drastisch an Einwohnern. Sie sind – übrigens nicht nur in Europa – die eigentlichen Globalisierungsverlierer (in den USA nennt man sie overfly country), auch wenn das natürlich nicht pauschal gilt (viele Gebiete in Bayern, Katalonien oder in der Emilia-Romagna sind z.B. Ausnahmen). Die soziale Krise von heute ist dennoch zu einem nicht unbeträchtlichen Ausmaß eine ‚ländliche‘ Krise. Dazu ist eine gewisse positive Korrelation zwischen strukturschwachen Gebieten und populistischem Votum bei Wahlen darstellbar. Die Verödung und Zersiedelung hat also Folgen für die post-ökonomische Situation in Europa, die sich derzeit akut demokratieschwächend auswirkt. Dies ist sehr deutlich in Frankreich zu sehen, wo es eine auffällige Korrelation zwischen strukturschwacher Region, Arbeitslosigkeit und dem Votum für den Front National gibt. Aber es gilt analog für die österreichische FPÖ oder die britische UKIP. Damit stellt sich in ökonomischer Hinsicht erstens die Frage, ob die aktuelle Strukturpolitik der EU sinnvoll ist, wenn sie im Wesentlichen auf den Prinzipien market and consumer-drives beruht, in Regionen, wo beides nicht gegeben ist. Und zweitens stellt sich die Frage, wie man die Regionen im politischen System der EU – oder einem Europa mit anderen demokratischen Strukturen – so aufwerten könnte, dass einerseits ihre politischen Interessen besser vertreten wären, andererseits aber die ländlichen Regionen zu den zentralen Beförderern einer konsequent nachhaltigen Entwicklung und Träger einer Post-Wachstumsgesellschaft werden könnten.
2. Schaffen wir die Nationalstaaten ab!
Ist Europa nach einem Brexit noch zu retten? Ulrike Guérot, revolutionäre Vordenkerin einer Europäischen Republik, kennt einen ebenso schwierigen wie hoffnungsvollen Weg.
Frau Guérot, Großbritannien steht möglicherweise kurz vor dem Austritt aus der EU. Die Umfragen lassen nichts Gutes ahnen. Wie konnte es so weit kommen?
Es ist ein bisschen wie der James-Dean-Film „… denn sie wissen nicht, was sie tun“. Ich könnte jetzt ein paar Plattitüden wiederholen: Dass die Briten nie richtig in Europa angekommen sind, dass sie nicht in der Schengen-Zone, nicht im Euro sind. Sie haben sich immer eingebildet, nur halb dazuzugehören. Es gehört nicht erst seit Winston Churchill zur britischen Imago, dass sie ein geeintes, ein starkes Europa wollen, aber sie selbst bleiben lieber außen vor. Und jetzt, da die EU sichtlich nicht funktioniert, sind sie halt schnell dabei, alles in Frage zu stellen.
Alles nur eine Laune?
Das scheint mir fast so. Die Briten wollen ja im Binnenmarkt bleiben. Nach einem Brexit aber müssten sie dafür jede einzelne Binnenmarktregelung mit 27 Mitgliedstaaten einzeln verhandeln. Mir hat ein britischer Regierungsbeamter gesagt, darauf müssten sie die Energie einer ganzen Generation verwenden.
Ein sehr technisches Argument.
Es hat sich nie ein emotionales Verhältnis der Briten zu Europa entwickelt. Darum geht jetzt die Brexit-Debatte in Großbritannien so in die falsche Richtung. Die Europa-Verteidiger haben nur ökonomische Argumente. Von der Brexit-Seite wird sie dagegen hochemotional geführt. Da geht es um das geliebte Königreich, um die britische Identität, um Unabhängigkeit. Das kommt nicht zusammen. Wer emotional gegen die EU ist, den überzeugen Sie nicht mit rationalen Argumenten. Davon zeugen ja auch so tragische Fälle wie die Ermordung der britischen Abgeordneten Cox.
Gibt es eine Chance, die Briten emotional doch noch zu packen?
Nein. Die finden sie selbst auf dem Kontinent immer weniger. In einen Binnenmarkt kann man sich nicht verlieben, hat Jacques Delors einmal gesagt. Das Pew Center hat gerade ermittelt, dass das Vertrauen in das Projekt Europäische Union drastisch schwindet. Immer mehr Europäer wünschen sich in allen Staaten ein Referendum wie in Großbritannien.
Auch in Osteuropa ist das so. Dabei gab es dort doch eine große Europabegeisterung in den Beitrittsjahren.
Ein Irrglaube. Den osteuropäischen Ländern war damals die Nato-Mitgliedschaft wichtiger. Die EU-Mitgliedschaft war nur die Zuckerkirsche auf der Torte, das Bekenntnis zur ‚immer engeren Union‘ blieb schemenhaft. Dort ist nie etwas entstanden, was dem auch nur nahekommt, was Staatsmänner wie Helmut Kohl, François Mitterrand oder Jacques Delors an europäischem Willen demonstriert haben.
Dann sollen die Briten doch gehen, wo ist das Problem?
Das Signal, dass eine EU-Mitgliedschaft beliebig ist, ist das Problem. Und die Frage, ob man die Kontrolle über die weiteren Entwicklungen behalten wird. Aber vielleicht müsste dann mal das ganze europäische System darüber nachdenken, was wir hier in und mit Europa zusammen machen wollen, und zwar richtig.
Das bedeutet?
Es muss gelten: Entscheidungen von großer europäischer Tragweite müssen von allen Europäern getroffen werden. Referenden in Nationalstaaten haben heute Veto-Charakter gegen Mehrheitsbeschlüsse in der EU. Das ist schon systemisch falsch. Über EU-Entscheidungen müssen alle europäischen Bürger abstimmen, da darf es keinen Unterschied machen, wes‘ Landes Kind ich bin, das ist das Problem. Die Frage ist nicht Nationalstaat versus EU, sondern wie wir eine veritable europäische Demokratie organisieren.
Sie stellen die nationale Selbstbestimmung in Frage? Der Betrug des Maastrichter Vertrages liegt darin, dass uns versprochen wurde, wir seien Bürger-Union und Staaten-Union. Dualität. Wenn das so wäre, wenn es eine europäische Bürgerschaft gäbe, dann könnte uns, ganz platt gesagt, ziemlich egal sein, ob das Vereinigte Königreich als Staat die EU verlässt. Die Briten blieben europäische Bürger. Aber die europäische Staatsbürgerschaft ist der nationalen Staatsbürgerschaft nachgelagert. Die Briten verlieren die EU-Staatsbürgerschaft, wenn ihr Land die EU verlässt. Das ist die Lebenslüge des Maastrichter Vertrages.
Wie sollte es anders gehen?
Nicht die Staaten sind der eigentliche Souverän, sondern die Bürger sind es. Parlamente und Regierungen vertreten die Bürger nur. Im EU-System aber sind die Bürger nur sehr indirekt vertreten, denn im Wesentlichen entscheidet der Europäische Rat. Das ist die demokratische Stellschraube, an der wir drehen müssen, um Europa neues Leben einzuhauchen. Wenn Ukip-Chef Nigel Farage sagt, er hat ja als EU-Bürger in der EU nichts zu sagen, da will ich raus, hat er im Grunde recht. Der Parlamentarismus in der EU müsste neu gestaltet werden und dem Prinzip der Gewaltenteilung genügen. Man muss Regierungen abwählen können. In der EU aber kann man niemanden abwählen.
Daraus folgt? Wenn wir über eine wichtige Frage des europäischen Gemeinwesens entscheiden lassen, dann müssten die europäischen Bürger darüber alle zusammen am gleichen Tag entscheiden. Nur so verhindern wir ein europäisches Animal Farm, nämlich, dass einige in Europa gleicher sind als gleich.
Die Populisten würde das freuen.
Ich wäre da gar nicht so pessimistisch. Wenn wir es richtig aufziehen, kriegen wir immer eine große Mehrheit für das Zusammenbleiben. Im Gegenteil, die Populisten wollen mehrheitlich homogene Einheiten wieder voneinander trennen.
Dafür müsste sich die EU neu erfinden. Auch ihre Befürworter sehen doch die Mängel im System, die zum Teil undemokratischen Entscheidungsstrukturen. Die fehlende europäische Öffentlichkeit. Was muss die neue Idee für Europa sein?
Europa muss eine Republik werden. Eine politische Einheit, die dem Gemeinwohl verpflichtet ist und in der alle europäischen Bürger gleich vor dem Recht sind. Als Allererstes müssten wir ein Parlament haben, das macht, was ein Parlament machen soll, nämlich Gesetze. Das eine Regierung ein- und absetzen kann. Das Initiativrecht hat. Das eine Opposition kennt. Dessen Zusammensetzung die Bürger bestimmen können auf der Basis des Prinzips „eine Person, eine Stimme“. Das alles haben wir heute nicht.
Was haben wir stattdessen?
Ein Europäisches Parlament ohne Initiativrecht, eine Kommission als Hüterin der europäischen Verträge. Eigentlich eine Rolle, die einem obersten Gericht zufallen müsste. Wir haben ein Parlament, in dem ein deutscher Abgeordneter fast eine Million Menschen vertritt, ein maltesischer Abgeordneter nur 70 000. Wir haben eine Institutionenlogik, nach der das Parlament sich immer in einer ganz großen Koalition zusammenraufen muss, um den Europäischen Rat zu überstimmen. Das bedeutet, dass der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs das eigentliche Sagen hat in der Europäischen Union. Wir haben eine Staatenunion. Und keine Bürgerunion. Der aggregierte Bürgerwille wird in diesem europäischen System nicht abgebildet.
Demokratischer als ein Referendum aber geht es doch gar nicht. Einige haben das Nein der Niederländer im Referendum zum Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine als Sieg der Demokratie gefeiert. Das war es aber nicht. Ein Sieg der Demokratie wäre es, wenn alle EU-Bürger darüber abgestimmt hätten. Was die Niederländer gemacht haben, ist so, als wenn über die nächste Steuerreform in Deutschland nur die Bayern abstimmen würden.
Was spricht gegen eine Weiterentwicklung der EU zu den Vereinigten Staaten von Europa?
Die Tatsache, dass wir es in den letzten 25 Jahren unter weitaus günstigeren Bedingungen nicht geschafft haben. Die Nationalstaaten werden ein vereintes Europa nie machen können, das ist eine contradictio in adjecto, ein Wiederspruch in sich. Europa braucht darum eine Art reset. Nicht umsonst sagten die europäischen Gründungsväter, dass Europa die Überwindung der Nationalstaaten bedeutet.
Was folgt daraus?
Hier kommt der Begriff der Republik ins Spiel, der von Platon über Cicero bis Kant und Rousseau der älteste Begriff ist, wenn es um politische Einheiten geht. Die Republik ist im Kern ein gemeinsamer Rechtsrahmen. Bei Cicero heißt es ius consentis, das heißt, man schließt sich zusammen auf der Grundlage gleichen Rechts. Dafür muss man kein Volk sein, nicht ethnisch sortiert. Wir könnten uns also als 500 Millionen europäische Bürger hinstellen und sagen: Wir sind der Souverän Europas, wir wollen eine res publica europaea, wir gründen eine Europäische Republik. Nicht die Staaten, sondern wir.
Und dann? Dann hätten wir keinen Europäischen Rat mehr, in dem nur nationale Karten gezogen werden. Wir hätten einen völlig neugestalteten europäischen Parlamentarismus. Der politisch ist, in dem man eine Regierung abwählen kann. Es wäre ein System, das endlich unsere demokratischen Grundanforderungen – Rechtsgleichheit, Gewaltenteilung – erfüllen würde. Die würden wir in den Nationalstaaten nie in Frage stellen.
Also mehr Europa, mehr Demokratie. Vor allem ein anderes Europa. Wir brauchen eine nachnationale Demokratie. Wir müssen uns von der Idee verabschieden, dass der Nationalstaat das einzige Gefäß ist, in dem Demokratie organisiert werden kann. Im Begriff der Republik spielt das Nationale überhaupt keine Rolle. Bürger, die sich entschließen, in ein gemeinsames politisches Abenteuer zu gehen, gründen eine Republik. Das ist alles.
Viele Menschen sind verliebt in ihre Nation. Was kann die überzeugen?
Die Menschen lieben nicht die Nation, sie lieben ihre Region. Robert Menasse sagt: Region ist Heimat, Nation ist eine Fiktion. Das stimmt. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen, aus der Region um Köln, da hänge ich ein bisschen dran. Wenn ich in München bin, weiß ich aus den Geschichtsbüchern, dass das zu Deutschland gehört. Stünde da etwas anderes, würde ich das auch glauben. Nationalstaaten sind menschliche Artefakte. Die wurden irgendwann mal gemacht. Die Hansestädte in Deutschland standen immer gegen das Heilige Römische Reich. Die italienischen Städte waren alles Republiken.
Wie wollen Sie zur Europäischen Republik kommen? Binden wir doch zwei Megatrends zusammen: Wir haben einen wahnsinnig starken Trend zur Regionalisierung. Schauen Sie nach Schottland, Böhmen, Mähren, Bayern, wohin auch immer. Und auf der anderen Seite einen starken Trend in der Demokratie zu mehr Partizipation. Wir müssen weg von der Idee, Demokratie könne auf einen Wahlakt alle paar Jahre reduziert werden.
Mit diesen beiden Trends könnten wir ein Europa schaffen, das nach außen stark und geeint ist. Und nach innen größtmögliche regionale Vielfalt bietet: normative, also Rechtsgleichheit bei gleichzeitiger kultureller Vielfalt. Eben europäische Regionen, die sich zu einer Europäischen Republik zusammenschließen. Dafür bräuchten wir dann einen Senat als zweite Kammer, in dem die Regionen vertreten wären. Den europäischen Präsidenten könnten wir direkt wählen.
Sie schaffen die nationalen Regierungen ab. Selbstverständlich. Damit hätten sie die drei dicken Elefanten, die heute das europäische Geschehen dominieren – nämlich Deutschland, Großbritannien und Frankreich – aus dem Weg geräumt. 50 mehr oder weniger gleich große Regionen in Europa kommen machtpolitisch anders zusammen, als so ungleiche Nationalstaaten wie in der heutigen EU. Es ist heute doch kein Spielfeld der Gleichen, wenn am Ende doch nur Frau Merkel regiert.
Mal weg von der Utopie hin zum real existierenden Referendum der Briten. Überlebt die EU einen Brexit? Es wird zumindest ungemütlich. Nach den Briten kommen womöglich die Ungarn, die Polen, die Tschechen. Bald wollen alle ein nationales Referendum. Dann tanzen die Puppen. Die Rechtspopulisten von der FPÖ über den Front National bis zur AfD werden sich freuen. Vielleicht gewinnt Marine Le Pen in Frankreich die Präsidentschaftswahl. Ich will das nicht beschwören. Aber unmöglich scheint ja heute nichts mehr.
Was kann dem noch entgegengesetzt werden? Das Interessante ist doch: Die Populisten von Le Pen bis Frauke Petry sagen alle, sie haben gar nichts gegen Europa, sie haben nur etwas gegen die EU. Nehmen wir sie doch beim Wort und machen wir Europa attraktiv: regional, parlamentarisch, demokratisch, sozial. Die politische Mitte muss den sogenannten Populisten ihre eigentlich richtigen Forderungen klauen: Mehr Region, weniger Nationalstaat, mehr Gemeinwohl, weniger technokratischer Binnenmarkt. Es wäre eine Chance, die Menschen wieder für Europa zu gewinnen. Und der Rechtspopulismus würde wahrscheinlich schmelzen wie Erdbeereis in der Sonne.
Wer soll das angehen? Die Regierungen werden dafür weder die Kraft noch den Willen aufbringen. Richtig, das lehrt uns die Geschichte. Nach Hegel kann das alte System nie das neue gebären. Und Systemwechsel sind kritische, historische Momente. Aber 1989/1990 haben wir in Europa so einen Wechsel friedlich hinbekommen. Wir sollen stolz darauf sein. Die Frage ist, ob uns das noch einmal gelingen kann.
Soll sich Europa bereithalten für die Katastrophe, für den Zusammenbruch? Joschka Fischer hält eine Implosion der EU nicht mehr für ausgeschlossen. Immer wenn Eliten glauben, ein System kann nie zusammenbrechen und sie dann auch noch ständig sagen, dass das System schon überleben wird, dann ist es akut gefährdet. Das sagt uns die Desintegrationsforschung. Danach ist die EU extrem gefährdet. Nur weiß keiner genau, wann und wie es passiert. Ob ein Brexit der Trigger dafür ist, weiß ich nicht. Aber er könnte es sein.
Das klingt alles sehr depressiv. Im Gegenteil, alternativlos macht depressiv. Ich setzte eine Utopie gegen die augenblickliche Depression. Schon seit Jahren sind in den sozialen Netzen junge hochmotivierte Menschen mit europäischen Initiativen unterwegs, die solche Orientierungen suchen, aufgreifen und weiterführen.
Quelle: SZ vom 21.06.2016 Interview von Thorsten Denkler
3. Guérot: „Eine Einladung mutig über Europa nachzudenken“
Ulrike Guérot vom European Democracy Lab hat ein Buch veröffentlicht: „Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie“. treffpunkteuropa.de hat sich mit der Autorin zum exklusiven Interview getroffen, um über diese Utopie zu sprechen.
treffpunkteuropa.de: Man kann Sie als Insider der Europapolitik bezeichnen. Auch wenn Sie nicht aktive Politikerin waren, so waren Sie doch indirekt in die Gestaltung der Europapolitik involviert. Was hat Sie aktuell dazu veranlasst dieses Buch zu schreiben? Was ist Ihre Motivation? Ulrike Guérot: Ich habe tatsächlich Anfang der 90er Jahre bei Karl Lamers gearbeitet, in der Arbeitsgruppe Außenpolitik, als der Maastrichter Vertrag verhandelt wurde. Anschließend habe ich dann sehr viel in Thinktanks zum Thema gearbeitet. Mein Leben ist sehr eng mit diesem europäischen Projekt verknüpft. Das Buch habe ich geschrieben, weil wir 25 Jahre nach dem Maastrichter Vertrag, 1992 bis heute 2016, diese politische Union noch nicht umgesetzt haben. Und weil es mir so scheint, dass wir in der Eurokrise und durch die Eurokrise, wirklich jeden Bezug zum politischen Projekt Europa, wie es einmal gemeint und angestrebt war, verloren haben.
Stellen wir uns vor: Ich wäre ein an Europa interessierter Leser dieses Interviews. Können Sie mir sagen warum ich 18 Euro ausgeben soll, um Ihr Buch zu kaufen? Weil das Buch einen markanten neuen Debattenbeitrag liefert und den Blick weitet. Es ist eine Einladung mutig und ohne Schranken über die europäische Zukunft nachzudenken. Im Buch skizziere ich wie Europa wirklich funktionieren könnte. Es geht zentral um den Begriff der Souveränität, den wir immer noch am Nationalstaat festmachen. Wir erleben gerade in der Flüchtlingskrise, aber auch in der Brexit- und Grexitkrise, dass die nationale Souveränität immer kollidiert mit dem europäischen Interesse. Daher versuche ich, gerade den Souveränitätsbegriff zu dekonstruieren, um zu sagen wie Europa institutionell ganz anders aussehen müsste, damit ein demokratisches Europa überhaupt entstehen kann.
Sie gehen in Ihrem Buch durchaus hart mit der EU ins Gericht. Ist Ihr Buch irgendwo auch EU-feindlich? Naja, feindlich? Da müssten wir uns jetzt lange unterhalten was feindlich heißt. Aber in der Tat, ich formuliere eine sehr harte EU-Kritik. Das was ich klar benenne sind die systemischen Mängel der EU, dass die EU eben so nicht funktionieren kann, um gute und nachhaltig tragfähige europäische Lösungen zu bringen, für die europäischen Bürger. Insofern kann man mich als systemfeindlich bezeichnen, weil ich begründetermaßen denke, dass die EU, unter gegebenen Bedingungen, a) sich nicht reformieren kann und b) kaum vernünftige europäische Lösungen produziert.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Parteien wie der Front National, die FPÖ, oder jetzt auch die AfD in Deutschland davon profitieren, dass sie offensichtliche Mängel der EU anprangern, während sich die politische Mitte einer kritischen Debatte verschließt. Wandern Sie bei einer solchen Argumentation nicht auf einem gefährlich schmalen Grad? Ja, sicherlich! Und das ist in der Tat gefährlich und auch provokant. Dazu stehe ich aber auch, weil ich einfach wollte, dass folgendes klar wird: Auch Jürgen Habermaas sieht technokratische Strukturen und ein Demokratiedefizit in der EU und sagt das als Akademiker. Jetzt ist die Frage warum ein Akademiker das sagen darf und im politischen Raum dürfen wir das nicht sagen? Die eigentliche Schlußfolgerung wäre, daß wir uns das Demokratiedefizit, auf das uns Akademiker hinweisen, anschauen, ernst nehmen und beschließen diese Mißstände zu beheben.
Sie behaupten ferner, dass zwar die EU unpopulär ist, aber trotzdem noch zwei Drittel der EU-Bürger eine Sehnsucht nach Europa haben. Wenn man aber auf Wahlergebnisse schaut, kürzlich erst in Österreich oder bei den Landtagswahlen in Deutschland, wo nationalistische, europakritische Parteien starken Zulauf bekommen, könnte man an der Einschätzung zweifeln. Das was ich erfahren habe während unzähliger Reisen und Vorträge und das kann man auch abbilden, ist dass die meisten Bürger intuitiv verstanden haben: Allein kann der Nationalstaat hier auf dem Kontinent nichts mehr richten. Wir müssen irgendwelche europäischen Lösungen finden. Das Problem ist, daß ein gutes Europa nicht im politischen Angebot ist. Im politischen Angebot sind die Populisten, die sagen: „Weil das undemokratisch ist, wollen wir da raus.“, und die anderen sagen: „Alles ist alternativlos und wir machen weiter so.“
Was halten Sie von der Dominanz des Europäischen Rates bei grundlegenden Entscheidungen? Denken Sie dass die EU verständlicher für die Bürger und demokratischer geworden ist, weil die national bekannten Staats- und Regierungschefs bei der EU-Politik die Zügel verstärkt in der Hand halten? Nein, überhaupt nicht. Der Europäische Rat, im Gefüge der Institutionen ist ein Problem, weil sich im Rat, die nationale Souveränität, die nationalen Karten immer wieder manifestieren und jeder eine nationale Karte zieht, wenn er meint eine ziehen zu müssen. Insofern ist der Europäische Rat, eigentlich das zentrale Problem im Institutionsgefüge der EU.
Das Bewusstsein, dass die EU nicht gut funktioniert, hat ja auch die etablierte Politik erreicht, nur sucht man die Lösung meist in mehr Nationalstaat. David Cameron hat jetzt aktuell im Rahen der Brexitdebatte gewisse Vorschläge zur Reform der EU gemacht. Auch wird oft von britischer Seite moniert, dass das EU-Budget zu aufgeblasen ist. Wissen Sie, wenn sie im Tennisclub sagen: Ich will dabei sein, aber ich spiel kein Tennis, dann ist das dumm und das macht man auch nicht. Ich kann die Vorschläge von Cameron nicht begrüßen. Das sind politische Inszenierungen, die jetzt das Votum skeptischer Wähler für einen Brexit verhindern sollen. Ist das EU-Budget zu hoch? Nein, natürlich nicht. Das Budget der EU sind 0,9 % vom BIP der Europäischen Union. Große Politik macht man damit sowieso nicht. Für das was wir gemeinsam tun müssten, nämlich eine Sozial- und Fiskalunion, in die der Euro eingebettet werden könnte, dafür reicht das Budget hinten und vorne nicht aus.
Wieso ist die Eurokrise bzw. Griechenlandkrise ein so zentrales Thema in Ihrem Buch? Zur Eurokrise wurde sehr viel publiziert, auch wissenschaftlich. Und in diesen wissenschaftlichen Publikationen wurden die zentralen institutionellen Mängel der Euro-Governance auch immer angemahnt, aber im politischen Diskurs hatten wir eine andere Diskussion. Vor allem in Deutschland. Diese Diskussion war sehr bestimmt davon, dass wir in Deutschland für alle bezahlen, in Anführungsstrichen, dass wir das Opfer sind usw. und das versuche ich in dem Buch zu dekonstruieren, weil das so nicht stimmt.
Im Buch erwähnen Sie des öfteren das Konzept der „Vereinigten Staaten von Europa“, worunter Sie eine „Föderation aus Nationalstaaten“ verstehen. Sie erklären das Konzept für tot und fordern stattdessen die „Europäische Republik“. Was verstehen Sie darunter? Als erstes habe ich in die politische Ideengeschichte zurück geschaut, von Platon, über Cicero und Aristoteles, bis hin zu Rousseau und Kant: immer wenn Bürger sich auf ein politisches Projekt einigen, dann haben sie eine Republik gegründet. Der Begriff der Republik ist das Wort für ein politisches Projekt von Bürgern. Und erinnern wir uns daran, dass die Gründungsväter der europäischen Einigung, Walter Hallstein und Jean Monnet immer davon gesprochen haben, dass die Essenz des europäischen Projektes die Überwindung der Nationalstaaten ist. Der Vorschlag dieses Buches ist zu sagen: Wir machen jetzt endlich ein echtes politisches Projekt Europa, das eben auch die demokratische, die soziale und die fiskalische Flanke schließt. Die Republik kann diese Anforderungen weit besser erfüllen. Denn der Begriff und die Idee der Republik haben eine positive Resonanz. Menschen können sich mit ihr identifizieren und ich bin überzeugt, damit können wir die Menschen wieder für das europäische Projekt emotional ansprechen und begeistern.
Ein ganz wesentliches Konzept dabei ist die Gleichheit aller europäischen Bürger. Was verstehen Sie darunter und wo liegt der Unterschied zur aktuellen Situation? Der Unterschied zur aktuellen Situation ist relativ klar. Wir sind im Moment Staatsbürger von verschiedenen Nationalstaaten, die sich auf ein europäisches Projekt, nämlich die EU eingelassen haben. Aber die Nationalstaaten determinieren, wie wir, die Bürger Europas, wählen, wie wir Steuern zahlen und welche Rechte wir haben. Trotz Binnenmarkt und Rechtsangleichung, sind wir nicht in einem gemeinsamen Rechtsraum. Wir sind auch nicht in einem Steuerraum. Sie zahlen hier andere Steuern als in Frankreich, als in Finnland. Nur basierend auf dem Grundsatz der allgemeinen politischen Gleichheit können wir überhaupt ein politisches Projekt, im Sinne einer Republik begründen. Dann wären wir gleich vor den Wahlen, vor dem Recht, vor den Steuern und bei gleichem Zugang zu sozialen Rechten.
Der Untertitel Ihres Buches verrät, dass es sich bei dem was Sie beschreiben um eine politische Utopie handelt? Kokettiert Ihr Buch ein wenig mit der eigenen Weldfremdheit? Vielleicht. Ich habe überhaupt kein Problem damit zu sagen, dass so wie ich die Welt gerade wahrnehme, ich das gar nicht so schön finde. Und es tatsächlich auch ein Bedürfnis war, dieser Nichtschönheit des Realen, eine ästhetische Skizze und ein bisschen Poesie entgegen zu stellen. Dieses Buch ist eine Gesprächseinladung und soll zum Denken und Träumen anregen.
Quelle: treffpunkteuropa.de Die Fragen stellte Michael Vogtmann. Zur Person: Ulrike Guérot ist Politikwissenschaftlerin und Gründerin des „European Democracy Lab“ Berlin. Sie hat im Laufe ihres Lebens für diverse politische Thinktanks gearbeitet und gilt als ausgewiesene Expertin der Europapolitik. Ihr neuestes Buch „Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie“ ist seit April 2016 erhältlich.