Jun 182016
 
Der Aufstand der Frustrierten und die Krise des Modells Merkel

Von Paul Nolte

Das Jahr 2016 wird seinen Platz in den Geschichtsbüchern finden. In ihrem elften Jahr endet die Kanzlerschaft Angela Merkels. Die Flüchtlingskrise legt die Axt an eine ohnehin schon angeschlagene Europäische Union – sie zerbricht nach dem Referendum in Großbritannien; immer mehr Staaten, von Ungarn über Polen bis Griechenland und Spanien, ziehen sich aus den Brüsseler Institutionen zurück. Am 8. November wählen die Amerikaner Donald Trump zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten; Hillary Clinton, die Kandidatin von Eliten und Establishment, hat der populistischen Welle nichts entgegenzusetzen.

So könnte es kommen – oder auch nicht. Wir stehen in einer Zeitenwende, aber wohin sich die Dinge wenden, ist noch kaum auszumachen. Das politische Ende der Kanzlerin ist in den vergangenen Monaten schon häufig als unmittelbar bevorstehend prognostiziert worden, ebenso wie das Auseinanderbrechen der Europäischen Union spätestens seit der Griechenlandkrise. Irgendwie ging es immer weiter, ohne dass sich die Richtung änderte, ohne den großen Knall. Die Unzufriedenheit ist groß – alles müsste ganz anders sein! Aber wie es anders sein sollte, jedenfalls grundlegend anders, darüber lässt sich ein Konsens nicht erzielen. Diese Unsicherheit, diese unerträgliche Spannung zwischen der Offensichtlichkeit des „So geht es nicht weiter“ und dem scheinbar doch unausweichlichen pragmatischen „Weiter so!“ beschreibt die eigentliche Krise, in der wir uns befinden.

Eine Zeitenwende wird oft beschworen, und gerne beschreiben wir unsere Situation als die einer historischen Stunde. Irgendwie wäre es ja auch schmerzlich, wenn gerade wir in ganz normalen Zeiten leben dürften. Manchmal lagen die Zeitgenossen richtig, wenn sie den Umbruch im Moment des Geschehens verstanden und auf den Begriff brachten. Das war 1989 so, im ostmitteleuropäischen Völkerfrühling, und als Helmut Kohl sich den vorüberwehenden „Mantel der Geschichte“ umhängte. Es war im Herbst 1969 so, im vielleicht bis heute markantesten Regierungswechsel der Bundesrepublik, als eine Wahl trotz ihres knappen Ausgangs den gewandelten Zeitgeist verdichtete und dem Pendelschwung in Kultur und Gesellschaft politischen Ausdruck verlieh. Aber bloße Behauptung oder Wunschdenken führen den Gezeitenwechsel noch nicht herbei. Die „geistig-moralische Wende“ von 1982 endete in Kontinuität. Und wie oft ist zuletzt das gerade aktuelle Jahr zum Epocheneinschnitt erklärt worden: 2008 die Finanzkrise, 2014 die Ukraine und die Krim. Wir leben in einer Zeit inflationierter Zeitenwenden.

Und doch ist die Zäsurdiagnose nicht falsch. Die Landtagswahlen vom 13. März 2016 mögen in europäisch-vergleichender Sicht nur ein zarter Windhauch sein; ein vehementer Populismus macht Deutschland normaler, seinen Nachbarstaaten, ob im Westen, Norden, Osten oder Süden, ähnlicher. In der deutschen Wahlgeschichte markieren die Erfolge der AfD die heftigste Erschütterung, die dramatischste Verschiebung seit den Reichstagswahlen vom 14. September 1930, als die NSDAP mit 18,3 Prozent von einer Splitterpartei zur zweitstärksten Kraft nach der SPD aufstieg. Aber der Wahlerfolg ist nur ein Indikator, und der Streit um Flüchtlinge und Flüchtlingspolitik legt nur offen und verstärkt, was sich seit längerer Zeit tektonisch verschoben hat – und auch nicht mehr verschwinden wird. Eine Ära geht zu Ende: die Ära des Konsenses, die Ära einer liberalen Modernisierung – die Ära Merkel.

Diese Ära ist nicht identisch mit der Zeit ihrer Kanzlerschaft seit Ende 2005 oder ihrer Zeit als Vorsitzende der CDU seit dem 10. April 2000. Politische Konstellationen, Regierungskoalitionen, Kanzlerschaften standen in der Geschichte der Bundesrepublik in enger Verbindung zum „Zeitgeist“, zu tief greifenden Wandlungen in Kultur und Gesellschaft. Aber sie waren damit nicht deckungsgleich. Meist folgte die Politik, folgte die Wahlentscheidung oder Regierungsbildung einer Veränderung, die sich längst angebahnt hatte, mit einer gewissen Verzögerung. Und in der Berliner Republik ist sogar dieser Mechanismus diffuser geworden. 1969 bleibt eine politische Zäsur, aber die erste Große Koalition hatte seit 1966 viele Weichen für die Regierung Brandt-Scheel gestellt, deren gesellschaftliche Wurzeln sogar weit vor die Achtundsechziger- Proteste zurückreichen – zum Beispiel in das Jahr 1962 der Spiegel-Affäre, die Autoritarismus und Staatsgesinnung ins Wanken brachte. Eine konservative „Tendenzwende“ verkündeten Intellektuelle schon 1974, aber es dauerte acht Jahre, bis sich das am Bonner Kabinettstisch niederschlug – vermeintlich, denn da war der Schwung der Antikulturrevolution schon weithin verloren. Die unbestreitbare Zäsur des DDR-Zerfalls und der Wiedervereinigung rettete Helmut Kohl sogar aus höchster innerparteilicher Bedrängnis in weitere acht Jahre seiner Kanzlerschaft.

Was dann folgte, seit 1998, wirkte unmittelbar vor dem Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin wie ein letzter Triumph der Bonner Republik: die rot-grüne Koalition als saturierte Erfüllung der Achtundsechziger-Jugendträume. Aber in diesen Jahren, um die Jahrtausendwende herum, begann in Wirklichkeit eine ganz andere Zeit – begann die Ära Angela Merkels mit ihrer Grundlegung in der Kanzlerschaft Gerhard Schröders. Neben der gesellschaftspolitischen Liberalisierung, markiert durch das neue Staatsbürgerschaftsrecht und den ökologischen und konsumpolitischen Kurs Renate Künasts, trat jene sozial- und wirtschaftspolitische Herausforderung, die 2003 in die „Agenda 2010“ mündete. Die Gesellschaft und ihre Individuen zu ertüchtigen, statt sie bloß zu versorgen; die Marktkräfte in der Globalisierung neu zu entfalten – doch nicht um den Staat zu verabschieden, sondern im Gegenteil, um ihn stärker zu machen im Sinne eines mächtigen Engineering von Wirtschaft und Gesellschaft: Das erscheint im Rückblick als Kern jenes Paradigmenwechsels, der Schröder wenig später das Amt kostete. Denn der Appell an die „Neue Mitte“, den er im deutsch-britischen Schulterschluss neuer Sozialdemokratie vollzog, erzeugte jenseits der erfolgreichen Mittelschichten Verlustängste und Frustrationen. Von den Protesten gegen die Hartz-Gesetze, obgleich sie die SPD auf ihrer linken Seite auseinanderrissen, führt (auch) eine Spur in den neuen Populismus, in die sozialen und kulturellen Ängste in der Flüchtlingskrise von 2016.

Angela Merkel übernahm als Parteivorsitzende, nach dem kurzen Schäuble-Zwischenspiel, das Erbe Helmut Kohls und wusste instinktiv, dass sie sich von ihm abgrenzen und zugleich von ihm lernen musste. Die CDU musste heraus aus der politischen Sackgasse, aus dem Mehltau der Legislatur 1994/98, und sie brauchte Antworten auf das, was auch im bürgerlichen Lager, etwa in der „Ruck-Rede“ des Bundespräsidenten Roman Herzog vom 26. April 1997, zunehmend als Reformstau, als blockierte und träge gewordene Republik kritisiert wurde. Der Umzug in die alt-neue Hauptstadt, der Übergang in die Berliner Republik erwies sich als Katalysator eines solchen Neuanfangs – nicht nur für die rot-grüne Regierung, sondern auch für die Opposition. Raus aus den warmen rheinisch-katholischen Milieus, hinein in den rauen, säkularisiert-protestantischen Osten: Wer hätte das besser verkörpern können als die Pfarrerstochter und Physikerin aus Templin?

Aber es ging, auch wenn die Formel von der „Berliner Republik“ in den frühen Jahren nicht selten etwas pompös daherkam, um mehr als solche Symbolik. Das Koordinatensystem verschob sich, nicht nur in Politik und Parteien, sondern auch in Gesellschaft und Kultur. Die Schröder’sche Verbindung von Liberalisierung und Ertüchtigung, von Freisetzung und Steuerung traf einen Nerv des Zeitgeists und zumal eine Befindlichkeit der neuen, der im Strukturwandel erfolgreichen Mittelschichten. Und Angela Merkel entdeckte – nicht ohne Sackgassen und Lernprozesse dass sie sich selber in diesen Koordinaten wohlfühlte und nicht nur ihre eigene Partei, sondern das ganze Land mit diesem Kompass weiterführen wollte. In der Spalte „Umwege und Lehrgeld“ steht nicht zuletzt der radikal marktliberale Kurs mit dem Höhepunkt des Leipziger Parteitags der CDU von 2003. In der Regierung musste man ohnehin moderater sein, erst recht in der Großen Koalition mit der SPD Franz Münteferings. So wurde Angela Merkel als Bundeskanzlerin zur Vollstreckerin des Erbes Gerhard Schröders.

Pragmatismus und Kontinuität gehörten von Beginn an zum Portfolio der politischen Kultur der Bundesrepublik und zur Grundausstattung der Bundeskanzler. Gleichwohl war die in ungezählten Varianten immer wieder vorgebrachte Merkel-Kritik, sie verfüge über keinen programmatischen Horizont, über keine Vision einer guten Gesellschaft, von Anfang an extrem kurzsichtig. Oder sie hat, mit geschicktem Understatement, den Eindruck erweckt, sie stolpere bloß von einer Situationslösung zur nächsten. Gewiss gab es keinen Masterplan, nicht 2005, nicht 2000 und erst recht nicht 1990, bei ihrem Eintritt in die neue gesamtdeutsche Politik für die CDU. Aber so schwer ist das Welt- und Gesellschaftsbild, dem sie seither folgt, wahrlich nicht zu beschreiben. Seine Grundpfeiler sind: gesellschaftspolitische Liberalität, die nicht als Revolution, sondern in maßvollen Schritten ausgebaut werden soll. Sowie: der Vorrang Europas vor dem Nationalstaat – aber das setzte einen Grundkonsens der alten Bundesrepublik fort, und war im Übrigen, was heute leicht vergessen wird, eine Bedingung für die Gewährung der deutschen Einheit durch die Alliierten und Nachbarn.

Weiter: Marktwirtschaft nicht im angelsächsischen Sinne, sondern mit starken staatlichen Impulsen, nicht nur in der sozialstaatlichen Sicherung (auch das lässt sich, bis hin zum Mindestlohn, durchaus als deutsche Kontinuität – und obendrein als europäische Normalität – interpretieren), sondern in der aktiven staatlichen Steuerung einer liberalkapitalistischen Gesellschaft auf dem Weg zu mehr Leistung, Wettbewerb und Nachhaltigkeit. Also: Ausgabendisziplin und Schuldenbremse – nicht zufällig in frühem Konsens mit wichtigen Strömungen bei den Grünen. Und eine massive gouvernementale Forderung und Steuerung von Wettbewerbskulturen. Überall stoßen wir auf die seit 2006 jährlich ausgezeichneten „Orte im Land der Ideen“. Die klarste Ausprägung hat dieses Muster in der Wissenschaftspolitik gefunden, in den staatlichen und parastaatlichen Allokationsmechanismen der „Exzellenzinitiative“.

Wohin soll das führen? Zu einer selbstbewusst-heiteren „Spitzenstellung“ Deutschlands, zu einer Gesellschaft erfolgreicher Individuen. Aber auch zu einem staatlich geförderten ökologischen Umbau der Industrienation. Da passen Atomausstieg und Energiewende bestens ins Konzept – Fukushima war insofern für Angela Merkel kein Umfaller-Stolperstein, sondern eine Gelegenheit zur Durchsetzung langfristiger Ziele.

Welche Überschrift man dem geben soll, wäre für linke Kritiker auf Anhieb klar: Angela Merkel hat Deutschland als das trojanische Pferd des Neoliberalismus regiert, im Verein mit einer geschröderten SPD und gut situierten Grünen, die sich diesem Programm ausgeliefert haben. Das ist in zweierlei Hinsicht falsch. Erstens führt die Assoziation mit gesellschaftspolitischem Konservatismus in die Irre, denn die amerikanische Verbindung von (ökonomisch) neoliberal und (sozial, kulturell) konservativ existiert in Deutschland kaum. Zweitens ist dieser deutsche Neoliberalismus gerade nicht – auch hier im Unterschied zum angelsächsischen Modell – staatsfeindlich und antigouvernemental. Im Gegenteil: Jeden anständigen Republikaner in den USA würde bei nur flüchtigem Blick auf das Ausmaß staatlicher Steuerung von Wissenschaft, Wirtschaft und Wettbewerb, auf das dichte Geflecht staatlicher Administration der kapitalistischen Gesellschaft in Deutschland das kalte Grausen packen. Aber falsch ist der Begriff trotzdem nicht, wenn man ihn der billigen Kampfrhetorik entkleidet. Dann beschreibt er das deutsche Modell eines weichen Neoliberalismus, in dem Kapitalismus und Staat, individuelle Initiative und staatliche Administration, aber auch wirtschaftliche Freiheit und gesellschaftspolitische Liberalität – einschließlich Homoehe, Multikulti und Flüchtlingswillkommen – überhaupt keinen Gegensatz bilden, sondern ein wohlgeschnürtes Merkel-Paket, ein deutsches Muster des frühen 21. Jahrhunderts, ein deutsches Erfolgsrezept.

Einen Punkt muss man den Kritikern jedoch zubilligen: Es war ein Erfolgsrezept für die Erfolgreichen, für diejenigen, die sich in dieser schönen neuen Welt zurechtfinden konnten und die von ihr profitierten, ökonomisch-materiell ebenso wie kulturell, in ihren Weltsichten. Der Erfolg der Ära Merkel beruhte auf einem gesellschaftlichen Fundament: auf der Unterstützung durch die gebildeten und engagierten Mittelklassen, ganz gleich, ob sie ihr Wahlkreuzchen bei CDU, SPD oder Grünen machten. Von wegen Abstieg oder Zerfall der Mittelschichten, wie es periodisch durch die Zeitungen alarmiert: In kaum einem anderen westlichen Land haben sich die Mittelschichten so erfolgreich stabilisiert und neu erfunden wie in der Bundesrepublik. Als Spätwirkung des nationalsozialistischen Schocks ist das Bildungsbürgertum schon seit den sechziger Jahren linksliberal umgeschwenkt und hat seit den achtziger Jahren, parallel zum Aufstieg der Grünen, seine Welt- und Lebenshaltungen auf der Grundlage (und nicht selten staatsnaher!) ökonomischer Saturiertheit moralisch unterfüttert.

Soziale Empathie und Laisser-faire, Konsum und Konsumkritik konnten dabei eine zwanglose Verbindung eingehen. Auch das Bekenntnis zur schwierigen Vergangenheit Deutschlands, das Forttragen von Erinnerung und die Übernahme moralischer Verantwortung für die Naziverbrechen gehören dazu.

In Amerika spricht man von der „moral majority“ – und meint damit die vermeintliche konservative Mehrheit, die sich gegen die liberalen gesellschaftspolitischen Zumutungen der Moderne stellt. Auch in Deutschland hat sich eine moralische Mehrheit gebildet, und Angela Merkel war ihre Verkörperung, längst bevor sie in der Flüchtlingskrise zu ihrer Symbolfigur wurde. In der Berliner Republik aber steht die „moral majority“ für etwas völlig anderes als in den USA: nämlich für den liberalen Grundkonsens, der von den gebildeten Mittelschichten getragen wird – in der Wissenschaft und von Intellektuellen, in den Unternehmen, gewiss auch in den Medien und nicht zuletzt im Alltag der lokalen Zivilgesellschaft und ihrer freiwilligen Helfer.

Nun stößt das Erfolgsmodell an seine Grenzen, und Kräfte treten an die Oberfläche, welche. anderswo schon länger Politik und Gesellschaft auseinanderreißen. Ökonomischer Erfolg und soziale Abfederung, aber auch die historisch geprägte Konstellation des kulturellen Konsenses der Bundesrepublik haben diese Bruchlinie zudecken können, und es entstand die Illusion, das Modell Deutschland der Merkel-Mittelschichten könne eine Gesellschaft in rapiden Umbrüchen von Globalisierung und Migration, Digitalisierung und Arbeitsgesellschaft vollständig integrieren. Jetzt erleben wir den Aufstand der Nichtintegrierten mit ihren apokalyptischen, nicht selten auch verschwörungstheoretischen Weltdeutungen: Wir schaffen das nicht, Deutschland am Abgrund, der Islam bedroht das Abendland – und die Medien verschweigen die Wahrheit darüber. Zum Teil ist das eine ökonomische Bruchlinie: der Aufstand der Zurückgebliebenen in Ostdeutschland auch im wörtlichen Sinne derer, die nicht in den Westen abgewandert sind der Protest der materiell Deklassierten oder um ihre materielle Sicherheit Besorgten. Das ist die Klientel, um die sich die AfD mit der Linkspartei streitet.

Vielmehr, viel tiefer aber geht es um eine kulturelle Differenz. Optimisten stehen gegen Pessimisten, Zuversichtliche gegen Ängstliche. Überwiegend ist Deutschland keine „Gesellschaft der Angst“ (Heinz Bude) – die Dominanz der „moralischen Mehrheit“ ist auch zahlenmäßig, nicht nur in ihrer kulturellen Hegemonie, deutlich, wenn auch im Osten schwächer als im Westen. In der kulturellen Verunsicherung verbünden, sich zwei Kräfte, die auch die zwei Gesichter der AfD sind: Bürgerliche Altkonservative, denen die gesellschaftliche Liberalisierung – sei es in der Migrationspolitik, in der Gleichberechtigung von Lebensformen oder in der Auflösung nationalstaatlicher Souveränität – schon lange zu weit geht, treffen auf kulturell verunsicherte Kleinbürger, auf Modernisierungsverlierer, auf Frustrierte. In beiden Gruppen dominieren übrigens, nicht zufällig, Männer, ganz ähnlich wie in der Anhängerschaft Donald Trumps in den USA. Das zeigt ein gemeinsames Moment des Aufstands der Bürger und der Kleinbürger: den Widerstand gegen die Auflösung einer patriarchalischen Welt. Ihr schriller Ruf „Merkel muss weg“ wendet sich nicht nur gegen die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin, sondern gegen das liberale Modell in Wirtschaft und Gesellschaft, das die Ära Merkel geprägt hat, einer Frau als Bundeskanzlerin.

Wird sie darüber stürzen? Mag sein, und jede Kanzlerschaft ist einmal zu Ende. Für den Moment ist es unwahrscheinlich, jedenfalls nicht plausibler als ein Szenario, in dem sie die Union nach den Wahlen von 2017 in ein Bündnis mit den Grünen führt. Eine solche Koalition wäre wohl der Triumph von Merkels Vision eines ökologischen und werteorientierten Liberalismus in Markt und Gesellschaft. Es wäre eine Koalition der „moralischen Mehrheit“ – damit aber auch eine Gefahr, die Brüche zur Gesellschaft der Angst und des Ressentiments nicht überwinden zu können. Egal, wohin sich Umfragewerte und Wahlergebnisse der AfD in den nächsten Monaten entwickeln werden – der kulturelle Widerstand der Skeptiker und Frustrierten hat sich längst zu tief eingefressen, als dass es ein „Weiter so!“ geben könnte. Insofern geht die Ära Merkel zu Ende, und das Modell der moralischen Mehrheit steht auf dem Prüfstand. Nicht nach seiner grundsätzlichen Berechtigung. Aber als eine Komfortzone der Selbstverständlichkeiten lässt es sich nicht mehr gestalten. Die Frustrierten haben eine Stimme. Und Demokratie ist ein schmutziges Geschäft, schmutziger als manch schöne Vision der Erfolgreichen.


Cicero – 4.2016
Paul Nolte lehrt Geschichte am Friedrich- Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Er ist Autor zahlreicher Bücher, im vergangenen Jahr erschien seine Biografie über den Historiker Hans-Ulrich Wehler.


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