Jun 082014
 

Indische Religionen

Von Paul Gäbler

Evangelisches Kirchenlexikon – Kirchlich-theologisches Handwörterbuch, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2. Auflage 1962, Band H – O, Spalte 298 – 302

  1. Eigenständige Religionen
  2. Fremdreligionen
  3. Baukunst 
  4. Indien und das Abendland
  5. Literatur 
  6. Links

Vorderindien, das ehemalige Kaiserreich Indiens zerfällt seit der brititish Independance Act von 1947 in die beiden selbständigen Staaten Indischen Union (357 Mill.) und Pakistan (76 Mill.). Im heutigen Sprachgebrauch ist deshalb zu unterscheiden zwischen dem engeren politischen Begriff Indien (= Indische Union) und dem umfassenderen landschaftlich-kulturellen Begriff Indien (= Vorderindien). Die Inder sind ein ausgesprochen religiöses Volk. Daher findet der Säkularismus bei ihnen eigentlich erst seit dem 2. Weltkriege Eingang. Da nach ihrer Grundüberzeugung allen religiösen Anschauungen ein gewisser Wahrheitsgehalt zuzubilligen ist, neigen sie zum Synkretismus. Sie sind innerhalb gewisser Grenzen wohl einer weitgehenden Toleranz fähig, zugleich jedoch in dogmatischen Streitfragen oft höchst unduldsam. – Die Grundrechte der neuen Verfassung in Indien gewährleisten jedem Inder Freiheit zur Ausübung jeglichen religiösen Bekenntnisses und auch den ungehinderten Übertritt von einer Religion zur anderen.

1. Eigenständige Religionen

Was die einzelnen Religionen betrifft, so beginnen wir mit denen, die ihren Ursprung in Indien selbst haben.

a) Über die z.Z. der Induskultur im 3. Jahrhundert vor Christus vorherrschende Religion wissen wir nur wenig. Die Ausgrabungen in Mohenjo-Daro und Harappā lassen auf den Kult einer Muttergöttin und einer männ­lichen Gottheit mit dreigesichtigem Kopf sowie einen Tierkult schließen. Auch kegel- und ringförmige Idole wurden gefunden. Man weiß noch nicht, ob es sich um eine urdravidische oder eine importierte Religion handelt.

b) Die Alt- und Bergstämme Indiens haben Religionsgebilde eigener Prägung, die denen der sog. Primitiven zuzurechnen sind. Bemerkenswert ist der vielfach bei ihnen zu findende Glaube an ein höchstes Wesen. Es ist umstritten, ob dieser Befund im Sinne des Urmonotheismus ausgedeutet werden darf. Aller Wahrscheinlichkeit nach reichen diese Religionsgebilde in die allerälteste Zeit der Ureinwohner Indiens zurück, wie denn diese Stämme als die Nachkommen jener Ureinwohner angesehen werden. Zu ihnen zählen vor allem die Bhils, Chenchus, Konyak-Nagas sowie die zu der Dravida-Gruppe gehörigen Todas, Kollis u. a.

c) Die vedische und brahmanische Religion gehört der vor-hinduistischen Periode an. Der Vedismus verkörpert die älteste Entwicklungsstufe des späteren Hinduismus, der Brahmanismus die zweite. Die vedische Periode, die in den vier Vedas, vor allem dem Rigveda, wurzelt, zeigt eine präanimistische Auffassungsweise und die Verehrung von verschiedenartigen Machtwesen und Potenzträgern, die sich in Gotteinheiten wie Indra, Vishnu, Rudra und Agni kristallisierten. Ihr Einfluss wurde durch Zauberwort und -handlung gebannt. Während der Periode des Brahmanismus, der sich zusätzlich auf die neu entstehenden Brāhmanas (Schriften zum Opferritual) sowie die Āranyakas und die in sie eingebetteten Upanischaden (spekulativ-philosophische Werke) gründete, traten die Brahmanen als die Opferpriester immer stärker in den Vordergrund. In jene Zeit fallen die Anfänge des Glaubens an das Karma und die Seelenwanderung, der Ausbildung des Kastenwesens und der Entwicklung der sechs philosophischen Systeme (Vaisheshika, Nyāya, Sāmkhya, Yoga, Mīmānsā, Vedānta). Damals entstanden u. a. auch die beiden großen Epen, das Mahābhārata mit der darin enthaltenen Bhagavadgitā, auf die letztlich die spätere Bhakti-Religion zurückgeht, und das Rāmāyaṇa.

d) Zum Hinduismus bekennen sich rund 300 Mill. Bewohner der Indischen Union und 10 Mill. Bewohner Pakistans, ferner indische Auswanderer in Burma, Hinterindien, Afrika, auf Guam, den Fidschi-Inseln usf. und außerdem die Tamulen auf Ceylon und die Einwohner von Bali. – Eine niedere Form des Hinduismus ist der sog. Volkshinduismus. Seine Vorstellungswelt, Götterverehrung, Feste, Opfer und sein Tempeldienst sind zwar in mancher Hinsicht anderen „primitiven“ Religionen ähnlich, tragen aber vorwiegend hinduistische Züge. Er ist die Religion der breiten Massen, vornehmlich der Ādidravidas; aber auch die Gebildeten nehmen an seinen Festen und Feiern teil und betrachten seine Götterlegenden und seine Praktiken als populäre Einkleidung philosophischer Wahrheiten.

e) Der Buddhismus, in Nord-Indien um 500 vor Christus entstanden, breitete sich bis nach Süd-Indien aus und hatte Aussicht, die vorherrschende indische Religion zu werden, konnte aber den Hinduismus auf die Dauer nicht verdrängen. Er erlag in seinem eigenen Geburtslande dem Islam. Heute gibt es in Indien noch rund 182.000 Buddhisten (0,06%), in Pakistan 319.000 (0,4%).

f) Der Jainismus, etwa gleichzeitig mit dem Buddhismus in Nord-Indien entstanden, zählt heute noch 1,6 Mill. Anhänger (0,45 %).

g) Die Religion der Sikhs („Schüler“, „Jünger“) wurde von Guru (geistlicher „Lehrer“) Nanak (1469 bis 1538) begründet, dem neun weitere Gurus folgten. Sie übernahm vom Islam den Gedanken des einen Gottes und vom Hinduismus den der Mittlerschaft des Guru. Der letzte Guru, Govind Singh (1675 – 1708), fasste die Sikhs durch die Begründung der Khalsa („rein“) zu einer Art Theokratie zusam­men, die einen stark militärisch-politischen Charakter trug. Jeder Sikh trägt seitdem den Beinamen Singh („Löwe“). Die heilige Schrift der Sikhs ist der Ādigranth, auch Granth Sāhib genannt; er wird im Goldenen Tempel zu Amritsar fast göttlich verehrt. Es gibt heute 6,2 Mill. Sikhs (1,74 %). Der bekannte Sadhu Sundar Singh war von Haus aus Sikh.

h) Reformbewegungen verschiedener Art haben unter den Parsis, Moslems, Hindus und Jainas Anlass zu mancherlei Sonderbildungen gegeben, aber auch die Angehörigen ihrer eigenen Religion angeregt.

2. Fremdreligionen

Diesen eigenständigen Religionen stehen die Fremdreligionen gegenüber:

a) Das Judentum. Die Juden sind vielleicht schon im ersten nachchristlichen Jahrhundert wenn nicht noch früher, in Indien eingewandert. Neben den sog, Weißen Juden in Cochin gibt es die Beni Israel, die sog. Schwarzen Juden (Nachkommen von Mischlingen) in der Gegend von Bombay. – Von den rd. 27.000 Juden sind inzwischen viele nach Israel ausgewandert.

b) Der Parsismus. Die Parsis, Nachkommen der im 7. Jahrhundert in Persien unterdrückten und von dort geflohenen Angehörigen der Lehre des Zarathustra, heute etwa 110.000 an Zahl, leben in Bombay und Umgebung.

c) Der Islam. Die ersten Moslems, die in Indien ein­drangen, waren Araber, die sich Sindh und den südlichen Panjab unterwarfen. Seit 1001 folgten türkische und afghanische Eroberer und ihre Dynastien, bis schließlich 1526 die Moguldynastie ans Ruder kam und die glanzvollste Epoche der islamischen Herrschaft heraufführte. Zeitweilig war fast ganz Indien dieser Regierung untertan. Als Ergebnis dieser jahrhundertelangen islamischen Vorherrschaft ist folgendes bemerkenswert: Indien ist eins der wenigen Länder, die den oft grausamen, manchmal auch verlockenden Bekehrungsmethoden der Moslems getrotzt haben und nicht restlos islamisch geworden sind. Wohl gibt es in Indien rund 35 Mill. Moslems (10%) und in Pakistan 65 Mill. (86%), und zwar ganz überwiegend Sunniten. Bei einer Gesamtzahl von ca. 320-350 Mill. Moslems in aller Welt ist somit jeder dritte Moslem ein Inder; aber in der Indischen Union selber ist eben doch nur etwa jeder zehnte Inder ein Moslem. Weiter: Der Islam und der Hinduismus sind infolge ihrer engen Berührung nicht ohne gegenseitige Be­einflussung geblieben. 

d) Christentum. (anderer Autor) 

3. Baukunst

Die Anfänge der indischen Baukunst gehen auf die vedische Kultur Nord-Indiens im 1. Jahrhundert vor Christus mit ihrer Holz- und Bambusarchitektur zurück. Ihre Elemente wurden später in Ziegel und Stein minutiös nachgeahmt, selbst bei den Tempeln, die als Höhlentempel in Felswände hineingehauen oder als frei­stehende Felsentempel aus dem nackten Felsgestein herausgehauen wurden. Die buddhistische Baukunst, um 250 vor Christus unter Ashoka entstanden (frei­stehende Säulen, Säulenhallen, basilikaförmige Tem­pel, Stupas, Felsentempel), persisch beeinflusst, erlebte eine Hīnayāna-Phase (bis 200 nach Christus)., in der Buddha nur durch Attribute wie Thron, Kissen, Fußstapfen dargestellt wurde, sowie eine hellenistisch beeinflusste Mahāyāna-Phase (bis 750 nach Christus) mit regelrechten Buddhastatuen. Die hinduistische Baukunst gewinnt im 4. Jahrhundert nach Christus eine eigene Form (kubische Zelle mit Vorhalle), aus der sich seit dem 8. Jahrhundert im Norden der indoarische Stil, gekennzeichnet durch den auf den Tempel gesetzten wuchtigen Turm, und im Süden der dravidische Stil entwickelte; dieser gipfelte in den riesigen Tempelanlagen mit den hochragenden, mehrgeschossigen Tortürmen. Die Baukunst der Jainas lehnte sich an die der anderen an, entwickelte jedoch eine Vorliebe für den Bau ganzer Tempel­städte auf Hügeln und Bergen. Die islamische Bau­kunst, zunächst mit indischen Bauformen gemischt, von persischen und türkischen Vorbildern beeinflusst, brachte z.Z. des Mogulstiles (1520-1800) prächtige Moscheen, großartige Paläste und unvergleichliche Grabdenk­mäler (Taj Mahal) hervor. 

4. Indien und das Abendland

Einige der indischen Religionen und Reformbewegungen haben eine erstaunliche Aus­strahlungskraft bewiesen und auch auf das Abendland eingewirkt. Ferner sind mancherlei bedeutsame wechselseitige Einflüsse unter ihnen festzustellen, besonders zwischen Hinduismus und Islam. Auch sind die Ein­wirkungen der abendländischen Geisteswelt, vor allem des Christentums, an ihnen nicht spurlos vorübergegangen.


5. Literatur

Allgemein

  • H. Beythan: Was ist Indien, 1942 
  • G. Dunbar: Geschichte Indiens, 1937
  • J. N. Farquhar: Outline of the Religious Literature of India, London 1920
  • H. v. Glasenapp: Die Literaturen Indiens, 1929
    Ders.: Indisches Denken im Wandel der Jahrhunderte, 1934
    Ders.: Entwicklungsstufen des Indischen Denkens, 1940
    Ders.: Die Religionen Indiens, 2. Auflage 1955
    Ders.: Die Philo­sophie der Inder, 1949
    Ders.: Die Religionen der Menschheit, 1954
  • W. Hellinger: Vom inneren Schicksal Indiens, 1953
  • St. Konow: Die Inder, in: Chant II, I-198
  • W. Koppers: Das Schicksal des Gottesgedankens in den Religionen Indiens, in: F. König: Christus und der Religionen der Erde, Band 2, 1951, Seite 665-696 (katholische Sicht)
  • H. Kraemer: Die christliche Botschaft in einer nichtchristlichen Welt, 1940
  • N. Macnicol: The Living Religions of the Indian People, London 1933
  • Th. Ohm: Die Religionen in Asien, Veröffentlichung der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Geisteswissenschaft, H. 28,1954 (Religions­statistik)
  • G. Regamey: Die Religionen Indiens, in: F. König: Christus und die Religionen der Erde, Band 3, 1951, Seite 73-227 (katholische Sicht)
  • G. Rosenkranz: Evangelische Religionskunde, 1951
  • M. Schlunk: Führer fremder Völker und das Christentum, 1933
    Ders.: Die Weltreligionen und. das Christentum, 1953 (Neuüber­arbeitung)
  • A. Schweitzer: Die Weltanschauung der indischen Denker, 1934
  • H. W. Schomerus: Indische Frömmigkeit (= Indien und das Christentum, Band 1), 1931
  • O. Strauß: Indische Philosophie, 1925 
  • A. Väth: Die Inder, 1934 (Geschichte Indiens)
  • M. Winternitz: Geschichte der indischen Literatur, 3 Bände, 1909-1922.

Zu 1 a)  Induskultur

  • E. J. H. Mackay: Further Escavations at Mohenjo-Daro, 2 Bände, Delhi 1937-1938
    Ders.: Die Indus­kultur, 1938
  • J. Marshall: Mohenjo-Daro and the Indus Civilization, 3 Bände, London 1931
  • H. Mode: Indische Frühkul­turen, 1944
  • M. S. Vats: Excavations at Harappa, 2 Bde, Delhi 1940
  • M. Wheeler: The Indus Civilization, 1954

Zu 1 b)  Alt- u, Bergstämme

  • W. Koppers (s. o.) 

Zu 1 d)  Volks­hinduismus

  • R. Frölich: Tamulische Volksreligion, 1915
  • B. Ziegenbalg: Genealogie der malabarischen Götter, hersgegeben von W. German, Madras und Erlangen 1867
    Ders.:
    Malabarisches Heidentum, herausgegeben von W. Caland, Amsterdam 1926 (beides vor 250 Jahren geschrieben und noch heute aktuell)

Zu 1 g)  Sikhs

  • Khushwant Singh: The Sikhs, London 1953
  • M. A. Macauliffe: The Sikh Religion, its Gurus, Sacred Writings and Authors, 6 Bände, Oxford 1906
  • J. C. Oman: The Golden Temple of the Sikhs, in: Cults, Customs and Superstitions of India, London 1908, Seite 83-103.

Zu 1 h)  Reformbewegungen

  • J. N. Farquhar; Modern Religious Movements in India, London 1927
  • H.v. Glasenapp: Religiöse Reformbewegungen im heutigen Indien, 1928.

Zu 2 a)  Judentum

  • H. S. Kehimker: The History of the Bene Israel of India, Tel Aviv 1937
  • C. Roth: Art. Indien, in: EJud VTH, 407fr.

 Zu 2 c)  Islam

  • T. W. Arnold: Art. Indien (geschrieben 1919), in: EI, Band 2, 1927 (zahlreiche Literatur und Einzeln, über die Sekten, Orden, Heiligen und Feste de indischen Moslem)
  • A. Has­san: Der Islam in Indien, 1942 (zahlreiche Literatur)
  • V. R. & L. B. Jones: Woman in Islam. A Manual with Special Reference to Conditions in India, Lucknow 1941
  • W. C. Smith: Modern Islam in India, London 2. Auflage 1946
  • M. T. Titus: Indian Islam, London 1930.

Zu 3)  Baukunst

  • P. Brown: Indian Architecture, Bombay 1943 
  • O. C. Gangoly: The Ancient and Medieval Architecture of India, London 191;
  • M. Hürlimann: Indiens Baukunst, Landschaft und Volksleben, 1928
  • St. Kramrisch: The Hindu Temple, 2 Bde, London 1947
    Dies.: Indische Kunst, 1955
  • W. Kruse: Denk­mäler indische Kunst, 1943
  • B. Rowland: The Art and Archi­tecture of India, London 1953.

Zu 4)  Indien und das Abendland

  • L. Alsdorf: Deutsch-indische Geistesbeziehungen, 1944 (Lit.)
  •  E. Benz: Indische Einflüsse auf die frühchristliche. Theo­logie. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaft und der Literatur, Mainz, Nr. 3, 1951
  • H. v. Glasenapp: Kant und die Religionen des Ostens, 1954
  • H.W. Schomerus: Das Eindringen Indiens in das Herrschafts­gebiet des Christentums (= Indien und das Christentum, Band. 3), 1933.  

Links