Jul 262014
 

Notizen aus Bethlehem VIII, 2. Juni 2010 (Siedler)

Immer wieder stoße ich überraschend auf Orte, die biblische Bedeutung haben. Janoun verdankt seinen Namen Nun, dem Vater Josuas, dessen Grab sich unweit des Dorfes auf einer Anhöhe befindet. Diese gewährt einen weiten Blick hinüber ins Jordantal. Man sieht das Dorf und das Tal auf einmal mit anderen Augen: Hier also hat Josua, der treue Helfer und Nachfolger Moses, der wackere Kundschafter und Heerführer, seinen Vater beerdigt, hier wird er ein Haus gebaut, Schafe und Ziegen zur Tränke geführt haben. 

Ich kann nachfühlen, dass es fromme jüdische Menschen an solche Orte zieht. Gleich-zeitig nehme ich wahr, ein wenig beschämt ob meiner Unkenntnis, dass Nun, der Josua-Vater, den Moslems als Prophet gilt. Am Grab und in der schlichten Moschee des Dorfes wird seiner gedacht. 

Janoun – ein kleiner, wenig bekannter Ort, fernab der Pilgerrouten. Ein Ort von vielen, an denen die drei Religionen, denen die biblische Geschichte heilig ist, einander begegnen könnten.

Umso beklagenswerter, dass der Name des Dorfes im Jahre 2002 aus ganz anderen Gründen bekannt wurde. Nach den mit der Staatsgründung Israels, 1948, und der Besetzung von 1967 verbundenen Vertreibungen wurde nach 35 Jahren erneut die Bevölkerung eines ganzen Dorfes zur Flucht getrieben, weil das Maß des Terrors durch die sie umgebenden Siedler unerträglich wurde, und ihre Morddrohungen glaubwürdig waren. Damals ging eine Welle der Empörung durch Israel ebenso wie durch Palästina. Bereits am folgenden Tag besetzten israelische und ausländische Menschenrechtler den von den Einwohnern verlassenen Ort und verhinderten so den Einzug der Siedler. Unter dem Schutz der Freiwilligen wagte in den folgenden Wochen eine Familie nach der anderen zögernd die Rückkehr. Heute leben und arbeiten wieder ca. 90 Menschen in Janoun. Einige Häuser sind leer geblieben. Eins davon wurde zur Unterkunft der Beschützer. Seit dem Herbst 2002 blieben die Einheimischen nicht einen Tag lang allein. Seit 2003 sichert das EAPPI die internationale Präsenz.

„Ta’ayush“ – („Gemeinsam leben“) ist eine israelisch-palästinensische Friedensbewegung, in der viele israelische Akademiker/innen arbeiten. Sie waren damals als erste zur Stelle. Eine Sprecherin erklärte das Engagement als Widerstand gegen den „Transfer“ -ein beschönigender Ausdruck für die ethnische Säuberung der besetzten Gebiete und die unverhohlene Strategie rechter Siedlerorganisationen: “ … Transfer bezeichnet nicht unbedingt einen dramatischen Augenblick, in dem Menschen vertrieben werden und aus ihren Städten und Dörfern fliehen müssen. Es ist nicht notwendigerweise eine geplante und wohl organisierte Aktion, bei der Busse und Lastwagen mit Menschen beladen werden, wie es 1967 in Qalqilyah geschah. Transfer ist ein tiefer reichender Prozess, ein schleichender, verborgener Prozess. Er ist auf keinem Film festgehalten, noch überhaupt dokumentiert, und er geschieht unmittelbar vor unseren Augen. Wer auf ein dramatisches Ereignis wartet, ist in Gefahr zu übersehen, dass der Transfer bereits im Gange ist.“ (Haaretz, 15.11.2002)

Janoun liegt in einem anmutig sich öffnenden Talkessel. Die Mehrzahl der Gehöfte ist an die unteren Hänge der nordwestlichen Talseite gebaut. Sie trotzen mit ihren starken Mauern kühl der prallen Mittagssonne. Getreidefelder bedecken die Talsohle, Oliven-und Obstbäume die Hänge. Schafe und Ziegen weiden auf den Grasflächen. 

Das friedliche Bild trügt. Auf den Kuppen der umgebenden Berge zeichnen sich, erst auf den zweiten Blick erkennbar, die Umrisse von Gebäuden ab – Ställe, Wohnbaracken, Wachtürme und militärische Anlagen, Außenposten weiter entfernt liegender Siedlungen. Wie überall besetzen sie die Höhen rundum und suchen Schritt für Schritt das Tal zu erobern. Keine Familie, deren Väter oder Söhne nicht schon beleidigt, geschlagen, mitunter krankenhausreif geprügelt wurden. Die Berichte sprechen von brutaler Gewalt gegen Mensch und Tier, von Waffengebrauch und zerstörten Ernten. 

Ein Großteil der Hänge wurde zum Siedlerland erklärt. Der Lebens- und Ackerraum des Dorfes ist drastisch reduziert. Auf meinem Weg rund um das Dorf werde ich von meiner Begleiterin immer wieder gemahnt: „Nicht weitergehen!“ Die Missachtung der unsichtbaren Grenze hatte oft schon schlimme Folgen. Denn jede Bewegung unten im Dorf wird oben aufmerksam beobachtet. Immer wieder schweifen deshalb die Blicke hinauf und suchen die Hänge ab: Sind Siedler im Anmarsch? Sind Soldaten zu sehen? Letztere werden hier nicht geliebt aber dennoch weniger gefürchtet als die bewaffneten Siedler. Sie haben die Aufgabe, Zusammenstöße zu verhindern. Aber sie kommen immer zu spät, wenn sie gebraucht würden, und sie lassen stets die Version ihrer Landsleute gelten, so absurd diese auch sein mag. So wird kaum eine Gewalttat strafrechtlich geahndet.

Ich bin an Mythen und Legenden aus alter Zeit erinnert, die von Städten erzählen, die unsichtbarer Bedrohung und unberechenbarer Grausamkeit ausgesetzt sind, die Opfer fordert, besonders unter den Kindern. Die Kinder von Janoun verstummen und unterbrechen ihr Spiel, wenn ein unbekanntes Motorgeräusch zu hören ist oder ein Fremder gesichtet wird. Und die Jugendlichen suchen das Weite, sobald ihr Alters es ihnen erlaubt.

Wer „Settlers“? Das Bild ist vielfältig. Der Öffentlichkeitsbeauftragte des Efrata-Settlements, einer wohletablierten, ausgedehnten Wohnsiedlung nahe Bethlehem, ist ein gewandter Gastgeber, höchst eloquent, mit ausgeprägtem US-amerikanischen Akzent, der uns freundlich in sein Haus lädt und sich als Friedensaktivist darzustellen weiß. Er würde engere Kontakte zu den palästinensischen Nachbarn gern sehen, z.B. sportliche Vergleiche unter den Jugendlichen, und er bedauert Feindseligkeiten. Er entpuppt sich als entschiedener Gegner der Mauer, freilich nicht, weil sie ein Symbol der Besatzung ist, sondern weil sie den israelischen Anspruch auf palästinensisches Land begrenzen könnte. Er hält nichts von der Zwei-Staaten-Lösung, weil er für ein Israel eintritt, das ganz Palästina einschließt.

Die Mehrzahl der Siedlungen (oben: Har Horma bei Bethlehem) haben den Charakter der kämpferisch-kärglichen Vorposten längst hinter sich gelassen. Sie sind moderne Neubaustädte, mit Spekulationsgeldern aus dem Boden gestampft, mit bester Infrastruktur und Verkehrsanbindung. Da der Zuzug staatlich gefördert wird und Wohnraum in Israel teuer ist, ist für viele das Wohnen im ‚Settlement‘ eine naheliegende, wenn nicht sogar die einzige Option. Der Anteil der neu Eingewanderten, die von vorne anfangen müssen und auf staatliche Hilfe angewiesen sind, ist hoch. Für viele ist es die einmalige Chance in ihrem Leben, Besitzer einer Eigentumswohnung zu werden. Deshalb sind sie nach Israel gekommen. Die Settlements sind keineswegs Inseln der Reichen, aber eben Inseln des reichen Israel in einer von einer „Dritte-Welt-Ökonomie“ geprägten Umgebung.

Die Siedler aus religiöser und ideologischer Überzeugung, sei es im Pioniergestus mit Hacke und Gewehr, sei es im betont zur Schau gestellten konservativ-religiösen Habitus, sei es im modernen Gewand mit zivilierten Manieren und geschliffener Wortwahl – sie zusammen stellen vermutlich zahlenmäßig eine kleine Minderheit dar. Politisch ist ihr Einfluss jedoch unübersehbar und fatal. Ökonomisch sind sie stark infolge der Unterstützung aus den USA und Europa. Vielen Israelis scheint es nach meinem Eindruck peinlich zu sein, auf sie hin angesprochen zu werden. Das politische Erscheinungsbild weist verblüffende Ähnlichkeit mit der radikalen Rechten in Europa auf. Sie stellen die größte Gefahr für Israels Zukunft dar, weil jedes versöhnliche Ende des Besatzungsregimes ihren Zielen zuwider ist. Diese Einschätzung begegnet mir immer wieder und zwar vor allem unter Israelis.

In Janoun hat inzwischen die Getreideernte begonnen, früher als üblich. Neulich gab es wieder einen Zwischenfall. Einige jugendliche Siedler kamen mit ihren Hunden den Berg herab. Am Trinkwasser-Reservoir des Dorfes entfernten sie die Abdeckung und nahmen ein ausführliches Bad, gemeinsam mit ihren Hunden. Das Becken musste später geleert und gereinigt werden. Der Vorgang zeugt nicht gerade von Intelligenz, doch die ist auch sonst bei ihren Aktionen kaum im Spiel.

Aber insgesamt ist es momentan relativ ruhig in Janoun. „Al hamdu illah“ -„Gott sei Dank“, sagen die Bewohner.